Ein heißer Sommertag am Golf von Neapel. Man schreibt das Jahr 79 n. Chr. In den Straßen von Pompeji herrscht emsiges Treiben. Das letzte für viele Jahrhunderte: Am 24. August schickt der Ausbruch des Vesuvs die antike Stadt in einen konservatorischen Dornröschenschlaf. Und mit ihr etliche Bewohner.
1936 Jahre später. Es ist ein warmer Mittwoch im Frühling 2015. Ich sitze mit Herrn M21er auf einem Holzstamm in der Via di Castricio und blicke auf das alte Amphitheater.
Die langsam untergehende Sonne taucht mein Gesicht in ein sanftes, gelbes Licht. Obwohl die ursprüngliche Vegetation bei der Naturkatastrophe verbrannt ist, bin ich von sattem Grün umgeben. Archäologen haben u.a. Samen sowie Pollen analysiert und verkohlte Früchte gefunden. Dadurch ließen sich Gärten und mit ihr die Blütezeit von Pompeji rekonstruieren.
Seit über dreißig Jahren träume ich von diesem An- bzw. Augenblick, nachdem ich als Kind das „Was ist Was“-Buch über versunkene Städte gelesen habe. Das war 1983. Die Ausgabe besitze ich immer noch.
Untergegangen, um zu bleiben
Die Tragödie, die – neuen Schätzungen zufolge – etwa 2.000 Menschen den Tod brachte, ist aus wissenschaftlicher Perspektive wiederholt als Glücksfall bezeichnet worden. Die englische Historikerin Mary Beard schreibt, es gäbe nahezu kaum einen anderen Platz der römischen Welt, wo uns reale Personen mitsamt ihrem Lebensalltag derart anschaulich vor Augen geführt werden.
Dazu gehört auch die Frage, welche Habseligkeiten die Bewohner bei ihrer tragischen Flucht mitnahmen und wie viel Zeit ihnen angesichts von Bimssteinregen, glühender Schlacke, Ascheregen und Co. blieb. Denn wer heute die Überreste besucht, muss sich über eines im Klaren sein: Es handelt sich um „eine Stadt nach dem Auszug der Bewohner, die in aller Eile ihre Sachen packten […]. Teilweise mag dies der Grund dafür sein, wieso die Häuser von Pompeji so spärlich möbliert und so aufgeräumt zu sein scheinen. Die ästhetischen Vorlieben des 1. Jahrhunderts n. Chr. können unmöglich einer Art modernistischem Minimalismus entsprochen haben“, bilanziert Beard. Als wahrscheinlich gilt, dass Eigentümer ganze Wagenladungen mit Haushaltswaren in großen Mengen abtransportiert haben.
Für mich selbst wird die ehemalige Stadt unter der Asche damit zu einer Folie, auf deren Fläche sich viele Fragen aufwerfen lassen: Was kann oder soll bleiben, im Leben und danach? Welche Dinge sind mir so wichtig, dass ich sie – im Fall der Fälle – unbedingt zu retten versuchen würde? Den Flüchtenden, die zum tragischen Opfer einer Naturgewalt wurden, war nicht bewusst, dass ihre Habseligkeiten noch Jahrhunderte später ein unfreiwilliges Zeugnis der Vergangenheit ablegen sollten. Konservatorische Probleme jeglicher Art mit eingeschlossen.
Freilegen, Sichtbarmachen, Sortieren, Priorisieren: der eigene Minimalismus
Wenn ich mich heute frage, was im Hier und Jetzt für mich von Bedeutung ist, dann ist das glücklicherweise zu großen Teilen ein selbstbestimmter Prozess, überwiegend losgelöst von übereilten Entscheidungen. Ein Prozess, in dem es immer wieder zu Prioritätenverschiebungen kommt, in dem ich mich verändere und der mich verändert.
Wenn ich über Minimalismus nachdenke, dann geht es nicht mehr nur um das „Weglassen“, sondern auch um das „Zulassen“ – von Dingen, Menschen und Erlebnissen. Minimalismus bedeutet für mich, wie ein Archäologe aus allen Schichten das herauszuschälen und freizulegen, was mein Leben bereichert und nicht beschwert. Dazu gehört die Welt kennenzulernen, das „herausreisen“ aus dem Alltag, der Blick über den heimischen Tellerrand und das sichere Gefühl, am Ende meiner eigenen Reise einen großen Schatz an Erfahrungen und Eindrücken mit mir herumtragen zu dürfen. Mit anderen Worten: Ich hänge immer weniger an materiellen Gütern, aber ich erfreue mich an Zeit und Leben, an anderen Kulturen, an Geschichte und Geschichten. Die lasse ich zu. Nicht weg.
Diese Priorisierung ist selbstverständlich individuell und folgt keiner allgemeingültigen Regel. Wer die alte Puppensammlung von Tante Erna hortet, muss das nicht als Ballast empfinden und kann sich durchaus überaus frei fühlen. Einem anderen stellen sich bereits bei dem Gedanken sämtliche Nackenhaare auf. Wie der Untertitel dieses Blogs sagt: Es geht um eine (persönliche) Interpretation im 21. Jahrhundert.
Was davon wiederum für nachfolgende Generationen übrig bleibt? Abwarten.
Alle Zitate aus (unserer absoluten Literaturempfehlung)
Mary Beard: Pompeji. Das Leben in einer römischen Stadt. Stuttgart 2011