2020 ist das Jahr, in dem Menschen weltweit die scheinbare „Normalität“ von gestern hinterfragen. Es ist das Jahr, in dem wir noch stärker als sonst gezwungen sind, nach Lösungsangeboten für eine lebenswerte Welt von morgen zu suchen. Oder, um es mit anderen Worten zu sagen, einen Teil unserer gesellschaftlichen Grundlagen anzuzweifeln, auf denen unser bisheriges Leben basiert(e). Wer zweifelt, kritisiert und in Frage stellt, wird irgendwann um Antworten gebeten, um Alternativen etwa zum kapitalistischen System wie die sog. „Postwachstumsgesellschaft“, welche u.a. vom deutschen Volkswirt Niko Paech postuliert wird. Wieder andere versuchen sich bewusst an reinen Ideenskizzen, verfolgen den Ansatz, die Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge einer komplex gewordenen Welt in Beziehung miteinander zu setzen. Norbert Nicoll gehört dazu.
Weniger Scheinlösungen, mehr Genügsamkeit
Bereits 2016 veröffentlichte der Nachhaltigkeitsforscher eine interdisziplinäre Geschichte der kapitalistischen Wachstumsidee, die bis heute zum festen Bestandteil meines literarischen Minimalismus-Kanons gehört. Kein Rettungsplan und keine Formel, kein weiteres akkumuliertes Punktekonzept, wie Loslassen in 100 Schritten, 365 Tagen oder entlang der Bedürfnispyramide zunächst das eigene Ich und dann den ganzen Planeten nachhaltig zu retten vermag. Nicoll liefert 2020 „nurmehr“ eine Einladung zur Degrowth-Debatte, die um den privilegierten Status seines literarischen Gastgebers weiß: noch relativ jung, weiß und akademisch, aber mit ausreichendem Handlungsspielraum, um die Monate der Corona-Krise zum Nachdenken und Forschen nutzen zu können. Vor allem die erste Hälfte der Lektüre beleuchtet ohne jeden Dogmatismus u.a. die sog. Scheinlösungen, mit denen bspw. die Politik versucht, Nachhaltigkeit und Wachstum zu versöhnen. Nicoll spricht die kollektive(n) Nutzungsgrenzen für natürliche Ressourcen unverblümt an, die selbst bei grünen Millennials gerne einmal unter den nachhaltigen Flokati gekehrt werden: grünes Wachstum „Adieu“, Augenwischerei „Hallo“. Nicht immer ist (individuelle) Freiheit frei von Zielkonflikten und Widersprüchen.
Trotzdem sei, so der Wirtschafts- und Politikwissenschaftler, die Lösung nicht einfach in einem erzwungenen Herunterfahren unserer Wirtschaft zu suchen als vielmehr in einem freiwilligen und selbstbestimmten Maßhalten, das zur deutlichen Einsparung von Energie und Ressourcen führt: Man denke etwa an den verstärkten Gebrauch bestehender Güter (Secondhand), an die Einrichtung von Stadtteilgärten oder an ein Verbot von geplanter Obsoleszenz, auf Makroebene an das Bruttosozialglück im Königreich Bhutan oder an einen anderen Umgang mit Steuern, Rüstung und Verkehr. Die Frage, warum selbst kleine Initiativen einen wichtigen Einfluss haben, wird im Buch erfreulicherweise nicht außer Acht gelassen. Glaubt man der historischen Forschung von Maria Stephan und Erica Chenoweth, sind für eine friedliche Massenbewegung sowie den Anstoß grundlegender Veränderungsprozesse ohnehin lediglich 3,5 Prozent der Bevölkerung notwendig.
Weniger Güter, mehr soziale Beziehungen – für Nicoll zählt jeder einzelne Beitrag. Umgekehrt gilt: Nichthandeln ist auch eine Entscheidung. Für unser Nichthandeln sind wir genauso verantwortlich wie für unsere Handlungen – und dann greift der Autor doch bekannte Ideen und Überlegungen auf, die bspw. John Strelecky bereits im Café am Rande der Welt in Sachen suffiziente Lebensweise vor über zehn Jahren angestellt hat. Auch andere bekannte Kolleginnen und Kollegen kommen mit ihren Forschungsergebnissen und Learnings zu Wort wie Zero-Waste-Pionierin Bea Johnson oder der ehemalige Architekturverleger Daniel Fuhrhop, der sich gegen die fortschreitende Versiegelung von Flächen und Städten ausspricht. Selbstverständlich darf im Gegenzug das Glück nicht fehlen als eines der Dinge im Leben, die als steigerungsfähig und wachstumsbedürftig erscheinen – für mich die einzige Stelle im Buch, an der ich inhaltlich allerdings nicht mitgehe. Vielmehr würde ich das Glück durch den Begriff „Zufriedenheit“ ersetzen wollen, da sich besonders das Streben nach und Festhalten von Erstgenanntem nur allzu gerne in sein gegenteiliges Unglück verkehrt – das Glück, ein einsilbiges Wort, vergänglich wie ein rauschhafter kurzer Moment, kaum ausgesprochen, schon wieder vorbei, ein nimmersatter Dämon, den immerwährend zu füttern, uns rast- und ruhelos macht, im schlimmsten Fall unempfänglich und blind für die stillen positiven Momente.
Egal, welches Thema der Autor anschneidet, jedes einzelne wäre eine eigene größere Publikation für sich wert, darunter die ersten Ergebnisse zur Umsetzung eines (ökologischen) Grundeinkommens. Besonders hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang das Literaturverzeichnis im Anhang, das zahlreiche nationale und internationale Hinweise fernab der gängigen Standardlektüren enthält.
Alle Zitate nach Norbert Nicoll: Gut leben ohne Wachstum. Eine Einladung zur Degrowth-Debatte. Tectum Verlag, Baden-Baden 2020 (24,00 Euro)
Für das Rezensionsexemplar bedanken wir uns beim Tectum Verlag.
Beitragsbild: Norbert Nicoll © Norbert Nicoll privat, Cover © Tectum Verlag. Collage: Minimalismus21.
Danke.
Ich lese gerade das Buch von Niko Pasch und fange gerade erst an mich mit der Idee auseinander zu setzen. Jetzt habe ich noch ein weiteres Buch, welches ich zu dem Thema lesen werde.