Ein großes Haus, ein Auto, ein sechsstelliges Jahresgehalt, ein hochrangiger Jobtitel. Joshua Fields Millburn und Ryan Nicodemus verkörperten genau das, was als eine – wenn nicht die – gesellschaftlich anerkannte Formel von Glück gelten kann: Materialismus und Leistung. Oder wie sie selbst sagen: Wir lebten unsere Version des American Dream.
Dem Plus auf dem Konto sowie dem sozialen Status stand jedoch ein emotionales Minus namens „Unzufriedenheit“ gegenüber. Der Versuch, Glück zu erarbeiten und zu kaufen, war über die Jahre zu einer schleichenden Sucht inklusive Schuldenberg geworden, unstillbar und mit einem zügellosen Verlangen nach immer Mehr. Als Joshuas Mutter Ende 2009 ihrem schweren Krebsleiden erliegt, fangen die schönen äußeren Fassaden jedoch zu bröckeln an und legen das frei, was unbewusst schon längst klar gewesen war: Unsere Zeit auf dieser Erde ist endlich. Man kann sie mit dem Anhäufen von Geld oder auf sinnvolle Weise verbringen, wobei das Letztere das Erste nicht ausschließen muss. Doch das unablässige Streben nach Reichtum bringt kein sinnvolles Leben.
Was die beiden Amerikaner fortan unternahmen, lässt sich vielleicht am besten als „innere Inventur“ beschreiben. Joshua und Ryan versuchten zu verstehen, woher ihr Mangel an Glück kam und welche Anker sie von einem erfüllten Leben abhielten, ja davon, sich frei zu fühlen. Ihre Reise zum neuen Leicht-Sinn dokumentierten sie 2011 unter dem Titel MINIMALISM. Live a meaningful life. Die deutsche Erstausgabe ist 2018 bei Gräfe und Unzer erschienen, die jungen Männer sind international längst als The Minimalists mit ihrem gleichnamigen Blog bekannt geworden. Und der erfährt in der rund 160-seitigen Lektüre eine Verlängerung vom Digitalen ins Analoge, wobei umgekehrt immer wieder geschickt auf weiterführende Inhalte der Webseite „verlinkt“ wird. Kritikern mag diese Vorgehensweise ein Dorn im Auge sein, wenngleich der Content sich am Ende nur auf unterschiedliche „Datenträger“ verteilt: kostenlos im Internet (sofern man Nutzerdaten als „Online-Währung“ grundsätzlich nicht berücksichtigt), für 12,99 Euro auf Papier; warum gute Inhalte kosten dürfen und sollen, haben wir bereits an anderer Stelle diskutiert.
Minimalismus. Der neue Leicht-Sinn ist jedenfalls kein klassisches Buch über das Ausmisten, sondern beschreibt vielmehr, wie wir uns von alten Ankern lösen, wie wir unser Leben aufräumen und aktiv Raum für die wirklich wertvollen Dinge schaffen. Wer sich eine Anleitung zum richtigen Aufräumen oder einen Ratgeber für „Magic Cleaning“ wünscht, dürfte vermutlich enttäuscht werden. Die Stärke der Lektüre besteht in einem vollkommen anderen Ansatz, der als Status Quo voraussetzt, dass wir uns bereits von allen unnötigen Dingen befreit haben und uns dem widmen, was nach dem Reduzieren, Entrümpeln und Loslassen kommt.
Minimalismus ist kein dogmatischer, strenger Ratgeber. Minimalismus bietet eine – mitunter selbstironische – Hilfestellung für ein bewusstes Leben an, in welchem wir in den Fahrersitz gehen, Verantwortung für uns selbst und für andere übernehmen und finanziell und emotional unabhängig von überkommenen Handlungsmustern, Glaubenssätzen sowie kulturellen Stereotypen werden. Das Buch möchte klarmachen, dass das Glück am Ende von innen kommt und damit in uns selbst entsteht, was selbstverständlich niemals einem Abgesang auf die menschlichen Grundbedürfnisse gleichkommt.
Dennoch wollen Millburn und Nicodemus nicht ausschließen, dass bspw. ein Arbeitsbereich Beruf und Berufung beinhalten kann, wenngleich etliche Menschen so viel von sich selbst in diese Karriere investieren, dass sie sich eine Identität und einen sozialen Status schaffen, der auf nicht viel mehr als ihrer Berufsbezeichnung basiert. Übersetzt heißt das: >>Was wir machen<< ist unsere Kernidentität und wir ordnen unserem Beruf einen weitaus höheren gesellschaftlichen Stellenwert zu, als er es verdient. Wer darüber hinaus seine menschlichen Beziehungen vergisst und seinen Konsumhorizont zum Zenit des Alltags macht, ist auf dem besten Weg, die Aufmerksamkeit für seine wahren Bedürfnisse und seine engsten Beziehungen zu verlieren – im Zeitalter von Instant Messaging, Textnachrichten und „Always on“ ohnehin ein flüchtiges Gut.
Weniger ist sehr viel mehr
Auf den Spuren bekannter amerikanischer Minimalisten wie Colin Wright und Leo Babauta haben Joshua Fields Millburn und Ryan Nicodemus ein kluges, erwachsenes Buch vorgelegt. Neben der inhaltlichen Komponente hat mich die vorliegende Ausgabe zudem durch die ansprechende, schlichte Typographie überzeugt. Einen leichten Punktabzug vergebe ich für das Kapitel Gesundheit, das sich meiner Ansicht nach etwas zu sehr in oberflächlichen Allgemeingültigkeiten verliert. Drastisch reduzieren oder streichen sind als Hauptzutaten einfach nicht nach jedermanns Geschmack.
Alle Zitate – soweit nicht anders angegeben – nach Joshua Fields Millburn und Ryan Nicodemus: Minimalismus. Der neue Leicht-Sinn. Gräfe und Unzer, München 2018 (12,99 Euro)
Für das Rezensionsexemplar bedanken wir uns bei Gräfe und Unzer.