Geschichten aus der großen Stadt
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Geschichten aus der großen Stadt 1: Begegnungen

Sie spricht mich am Eingang des Friedhofs an. Wo denn das Krematorium sei. Der Taxifahrer hat sie soeben abgesetzt. Jetzt geht sie etwas schwerfällig den kleinen Pfad Richtung Aussegnungshalle entlang. Ich bin mir nicht sicher und begleite sie ein Stück. Mein Ziel: Die Wegweiser, die ein paar hundert Meter weiter in der Sonne leuchten, schwarze, kleine Schrift auf weißem Grund. Zu klein für die Entfernung. Wir laufen nebeneinander in den Strahlen der ersten Frühlingssonne. Die kleine, alte Dame und ich, die ich gerade ein bisschen Ruhe in der Mittagspause suche. Plötzlich bricht es aus ihr heraus. Ihre beste Freundin wird heute bestattet, heute, am 6. Februar 2014, einem milden, warmen Tag. Ich spüre ihre Trauer und wie sie um Fassung ringt, während ihre rechte Hand den kleinen weißen Blumenstrauß fest umklammert hält.

Statue

Frühlingserwachen

Barbaratag im Februar
40 Jahre haben sie gemeinsam bei der Post gearbeitet. Neun Kilometer ist sie damals immer mit dem Rad zur Arbeit gefahren. Das Rad ist auch heute noch ihr liebstes Fortbewegungsmittel. Besser als laufen, denn da schmerzen Hüfte und Knie. Wir bleiben stehen, blinzeln in die Sonne und sie sagt etwas, das nach „Es ist so traurig, so ein Anlass, also der Tod, passt einfach nie“ klingt. Langsam tippeln wir zusammen weiter, ich solle mich nicht aufhalten lassen. Doch ich empfinde ihre Kontaktaufnahme nicht als störend. 87 Jahre sei sie alt, genauso alt wie ihre Freundin. Geboren 1926, am 4. Dezember, das Datum für den Barbaratag. Ihren Vornamen hat sie aber nicht vom Gedenktag bekommen.

Mutter oder Vater, das weiß sie nicht mehr so genau, hat Barbara nicht gefallen. Ich sage ihr, dass ich sie nicht auf 87 geschätzt hätte, 77 maximal. Da lacht sie und das Strahlen der Sonne leuchtet in ihrem Gesicht auf. Wie alt ich sei, will sie wissen. Dass uns ein halbes Jahrhundert trennt, kann und mag sie nicht glauben. Mehrfach artikuliert sie ihre Überraschung, und als wir vor dem Krematorium angekommen sind, lachen wir beide. Sie ist eine Dreiviertelstunde zu früh da, aber das macht nichts. Viel mehr Sorgen bereitet ihr, dass sie leichtsinnig gewesen ist. Weil sie nun wohl vielen Leuten die Hand schütteln müsse, hat sie ihren Stock zu Hause gelassen aus Angst, sie könne ihn irgendwo vergessen. Ja, der Stock, wie leichtsinnig sie doch sei. Leichtsinnig.

Citystories

Geschichten aus der großen Stadt

Ein Drehbuch, das Leben heißt
Ich muss an die Wörter „leichten Sinnes sein“ denken. Hier nicht negativ konnotiert, sondern in der Bedeutung von sorglos, gewagt, dem Leben zugewandt und voller Zuversicht, dass es auch ohne Vertrautes gehen werde. Ich muss daran denken, dass man Vertrauen haben muss, wenn man loslassen möchte, in sich selbst, in den Gang der Dinge.

Und doch gibt es sie, die externen Markierungen, die Schranken, die alles Irdische begrenzen, die uns Endlichkeit und Zerbrechlichkeit vor Augen führen. Heute Mittag auf dem Friedhof ist mir wieder einmal klar geworden: Loslassen passiert lebenslang, freiwillig und gezwungenermaßen, im Wechsel und parallel, auf vielen Ebenen. Und nicht immer führen wir in diesem Prozess Regie, übernehmen die Hauptrolle oder können am Drehbuch mitschreiben. Und nicht immer können wir so einfach auf die Dinge verzichten, vor allem, wenn sie uns stützen und Halt geben. Äußerlich und innerlich.

Die alte Dame setzt sich noch ein wenig auf die Bank vor der Halle und wartet.

2 Kommentare

  1. Danke. Sehr schön geschrieben. Ich hatte mal eine ähnliche Begegnung (siehe Link). Es lohnt sich, sich mal mit jemand Älterem zu unterhalten.

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