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Kinostart: Draußen

Presley und Pilze. Musik und Buch. Für Elvis und Matze sind das überlebenswichtige Besitztümer. Dinge, auf die sie nicht verzichten können und wollen. Elvis, der sich so nennt wie sein gleichnamiges US-Idol, findet in den Liedern der Rock- und Poplegende Halt: Das Anhören der Songs „bringt einen immer wieder auf Stimmung, auch wenn man – auf Deutsch gesagt – am Boden liegt“, sinniert er. Und am Boden lag der Mann mit dem Ausdruck gelebten Lebens in den vergangenen Jahren sehr oft. Im wörtlichen und im übertragenen Sinn. Denn Elvis ist obdachlos. Genau wie Matze, ein junger Mann mit sensiblen Gesichtszügen, der zu seinem überschaubaren Hab und Gut unter anderem ein Buch über Essbares aus der Natur zählt. Wenn es um das nackte Überleben in Wald und Flur geht, ein unermesslicher Schatz; und seit einer Pilzvergiftung in der persönlichen Bedeutung noch gestiegen.

„Wenn ich es nicht sauber gehalten hätte, dann hätte ich nie hier bleiben können“, sagt Elvis über seinen Platz unter der Brücke

Beide Männer sind Protagonisten und Porträtierte im Dokumentarfilm von Johanna Sunder-Plassmann und Tama Tobias-Macht, der am 30. August bundesweit in den deutschen Kinos startet. Draußen begleitet insgesamt vier Männer, die auf der Straße leben und den Filmemacherinnen nicht nur ihr Innerstes, sondern auch den Inhalt ihrer „Plastiktüten und Einkaufswagen“ offenbart haben: „Bei den Interviews fragten wir nach den persönlichen Gegenständen der Protagonisten. Entgegen unseren Erwartungen besaßen alle Gesprächspartner interessante Objekte, sorgfältig ausgewählt und bewahrt. Es waren Erinnerungsstücke, Fragmente und Bruchstücke aus einem früheren Leben, aber auch Dinge, die vom Leben auf der Straße erzählten. Sie waren, so wie bei allen anderen auch, Teil ihrer Persönlichkeit und Ausgangspunkt für ganz besondere, überraschende Geschichten, die den Leitfaden des Films bilden“, so das Regiestatement der beiden Frauen.

„Für draußen sind wir in eine Parallelwelt eingetaucht, der wir täglich begegnen und die wir zu kennen meinten“, so die Filmemacherinnen

Herausgekommen ist ein 80-minütiger Beitrag, der sich fließend zwischen Dokumentarfilm und Kunstinszenierung hin und her bewegt. Was Elvis, Matze, Peter und Sergio ihr minimalistisches Eigen nennen, ist maximal überlebensnotwendig. Egal, ob es sich um Fan-Devotionalien, Sammelfiguren aus Überraschungseiern, alten Fotos oder um Fixerbesteck handelt. Obwohl der Besitz jedes Einzelnen in eine überschaubare Kameraeinstellung passt, ist der individuelle Wert dahinter kaum zu greifen.

Der Besitz der vier Männer steht stellvertretend für vier Vergangenheiten, ist Spiegel verblasster Tage, Zeugnis enttäuschter Hoffnungen und zerstörter Träume sowie Halt in Zeiten wie diesen. Etwa bei Matze, der ein graviertes Besteck in den Händen wiegt, aufgeladen mit Erinnerungen, von denen er hofft, sie mögen auf ewig bleiben und nicht wegrosten, nicht aus der eigenen Biographie verschwinden wie der Großvater, bei dem er aufgewachsen ist. „Erfahrungen machen das aus uns, was wir sind“, bilanziert er. Und um Erfahrungen und Erinnerungen geht es sehr viel in dieser Doku, die keine Stimme aus dem Off und keinen Erzähler im Hintergrund benötigt, aber stattdessen auf lange Einstellungen und Raum für Innenwelten setzt.

Mit dem Erlös von vier Pfandflaschen kann sich Matze einen ganzen Tag lang ernähren

Die frühkindliche Sozialisation zieht sich wie ein bleischwerer Faden durch die Biographen dieser Menschen und lässt sie nicht mehr los, die Heimkinder, die Verstoßenen, die Haltlosen. Auch nicht unter einer Brücke, irgendwo in Deutschland, irgendwo bei Köln. Und dennoch kommt Peter, der ehemalige Karnevalsprinz, Punk und Ehemann zu einem für viele Zuschauer wohl unerwarteten Schluss: „Ich kann gar nicht mehr anders leben, ich möchte gar nicht mehr anders leben.“ Bei Elvis klingt das ähnlich. Nachdem die Filmemacherinnen ein altes Kissen in Herzform aus seinem penibel angeordneten Schlafplatz in Szene gesetzt haben, wird ein emotionales Bruchstück aus einem fremden Leben sichtbar. „Ich liebe Dich“ ist auf dem Herzen zu lesen, das einst in Form einer Schausteller-Tochter für den heute weißhaarigen Mann schlug. Eine Liebe, die durch einen tödlichen Unfall endete. Für Elvis zugleich das Ende einer – wie auch immer gestalteten – „Normalbiographie“. Raus auf die Straße will er nur noch, keine Erinnerungen mehr haben, weil alles fortan negativ behaftet ist. Über vier Jahrzehnte ist das nun her.

Elvis ist ihm Heim aufgewachsen, ohne Privatsphäre und ohne Rückzugsmöglichkeit

Es sind Schicksale, die berühren und die unser Verhältnis zu unseren Besitztümern in ein vollkommen neues Licht rücken. Wenn Matze eine kleine Fee bzw. Elfe aus einem Überraschungs-Ei an sein provisorisches Zeltdach im Wald hängt, ist die kleine Figur mehr als nur ein Spielzeug aus Kunststoff. Sie ist eine Hüterin der Vergangenheit, eine Reminiszenz an das Kind Matze, das sein erstes Taschengeld in diese Eier investierte. Ein sichtbarer Faden der eigenen Geschichte, die Biographie heißt, abgerissen und dennoch weitergesponnen. „Wir wollten, dass unsere Protagonisten für eine Nacht in einem anderen Licht dastehen. Deshalb haben sich für die Dauer einer Nacht, ihre Schlafplätze verwandelt. Wir gingen von den vorhandenen Gegenständen und ihren Geschichten aus und schufen einen neuen Raum. Dort, wo unsere Helden Schutz suchen, an ihrem Lagerplatz, entstanden individuelle Kompositionen, wie Bühnenkulissen oder Vitrinen eines Museums“, heißt es in der Synopsis zu Draußen.

Peter und Sergio (rechts im Bild) teilen ihren Alltag. Die Kameras ihren Besitz

Persönlicher Besitz, behaftet mit einer emotionalen Spannbreite wie Scham und Stolz, sowie reine Selbsterhaltungsanker hängen daher plötzlich an Betonwänden, an Astgabeln, sind fein säuberlich eingepasst in Quadrate und rücken in den Fokus, aber (leider) auch von ihren Besitzern weg. Ob das bislang Gesehene und Gehörte auf diese Weise „überhöht und dadurch anschaulich“ oder ein „poetische(r) Erlebnisraum“ für Betrachter zur „individuellen Auseinandersetzung“ mit Matze, Elvis, Peter und Sergio geschaffen wird, wie es Sunder-Plassmann und Tobias-Macht postulieren, sei dahingestellt. Einen Einblick in die komplexe Bedeutung von Dingen auf unser Leben und die mitunter leidvolle, lebenslange Komplizenschaft mit selbigen verschafft der Dokumentarfilm in jedem Fall.

Draußen

Buch, Regie und Schnitt:
Tama Tobias-Macht und Johanna Sunder-Plassmann
Sprache: Deutsch
Kinostart: 30.8.2018
Länge: 80 Minuten

Eine Produktion der unafilm GmbH in Koproduktion mit dem WDR in Zusammenarbeit mit ARTE.

Für die Möglichkeit zur Preview bedanken wir uns bei der Kölner Filmpresse.

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