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Echt jetzt. Warum wir analog lieben

Florian Kaps ist ein charismatischer Redner. Einer, der seine Zuhörer zum Lachen bringt. Ein Publikum, das sich beruflich den modernen Medien verschworen hat. Aber in verstohlenes Kichern ausbricht, wenn der Mann auf der Bühne seinen Overhead-Projektor einschaltet und transparente Folien an die Wand projiziert. Denn auf der UBX Konferenz in München will man in erster Linie über „Useful Brand Experience“ sprechen und darüber, wie Marken für Konsumenten erlebbar werden.

Wo Beamer Projektoren und PowerPoint-Präsentationen Handouts abgelöst haben, ist die Frage nach dem Verhältnis Mensch – Marke scheinbar längst geklärt: Suchmaschinenoptimierung (SEO), Personalisierung und Displaywerbung sind nur einige Maßnahmen, mit denen das Kommunikations-Nadelöhr zum Endverbraucher passiert werden soll. In der Praxis hat das jedoch zu einem digitalen Drängeln geführt und dem verzweifelten Versuch, täglich tausende von (Werbe-)Botschaften publikumswirksam zu platzieren. Augen und Ohren sind dabei einer wahren Informationsflut aus News, Pop-ups, Streamingdiensten, Podcasts etc. ausgesetzt – gleichsam die einzigen der fünf Sinne, die überhaupt virtuell-digital berührt werden können. Das weiß auch der promovierte Biologe (Fachbereich „Spinnenforschung“) Kaps.

Polaroid: The Impossible Project
Als die Traditionsmarke Polaroid die Produktion der Sofortbildfilme einstellte, übernahmen er und zwei Geschäftspartner das einzig verbliebene Firmenwerk in den Niederlanden. Und machten sich 2008 daran („The Impossible Project“), die analoge Fotografie durch die Entwicklung eines neuen Filmmaterials wiederzubeleben bzw. fortzusetzen. Mit Erfolg. Doch wie lässt sich dieser ungeachtet von Qualitätsmerkmalen, kluger Vermarktung und einem tragfähigen Netzwerk erklären? Der Naturwissenschaftler hat dazu in München eine spannende These präsentiert – fernab vom romantischen Retrofeeling der so gerne als ewig Gestrige bezeichneten Sammler, Liebhaber und Horter.

Nach Florian Kaps sei man lange Zeit der Ansicht gewesen, alles Analoge – darunter Schallplatten und Fotos – würde spätestens dann verschwinden, wenn das Digitale so gut sei wie das Analoge. Ein Irrtum, wie das Impossible Project zeigt. Denn in der Praxis sehnen sich die Menschen danach, alle fünf Sinne zu gebrauchen, wollen nicht nur sehen und hören, sondern auch riechen, schmecken und fühlen, wollen ihre Umwelt real und allumfassend erfahren. Die Suche nach Reizung sämtlicher Sinnesorgane außer Augen und Ohren ist ein multisensorischer Reflex, den das Digitale in seiner Gesamtheit allerdings nicht erzeugen kann: Gänsehaut ausgeschlossen. Denn das Digitale kitzelt schlichtweg drei von fünf Sinnen nicht. Wer umgekehrt aber jemals einen starken analogen Reiz erfahren hat, wird diesen oft sein ganzes Leben nicht mehr los.

Die Rückkehr des Analogen. Screenshot vom Instagram-Account @ supersense

Trust your own senses oder das Comeback der Realität
Welche Auswirkungen dieses Verhalten hat, untersucht Kaps in Wien. Als Mitgründer von Supersense hat er einen Testort für Experimente im Dogenhof (Praterstraße) ins Leben gerufen, der die Chancen des Analogen in den Blick nimmt und Interessenten sensorisch am Herstellungsprozess von Gütern wie Schallplatten und Postern teilhaben lässt – eine (haptische) Erlebniswelt, in der es nach Farbe genauso wie nach Kaffee oder nach Acetat riecht, das bei der Vinylherstellung zum Einsatz kommt. Überhaupt ist es der Geruchssinn, der am stärksten mit dem Gedächtnis verknüpft sei, erfahren die UBX-Besucher unter Verweis auf die Geruchsforscherin Sissel Tolaas. Aus diesem Grund spult uns beispielsweise der Duft von Omas Apfelkuchen bis ans Ende unserer Tage in eben jene unserer Kindheit zurück. Mitsamt den Emotionen des Moments. Was heißt das nun aber für unser Verhältnis zu den Dingen? In einem Interview mit dem Online-Magazin Freunde von Freunden beschreibt der Unternehmer dieses wie folgt:

„Das Digitale ist für mich oberflächlicher. Natürlich ist es schneller und das hat bestimmt auch seine Vorteile. Vielleicht passt dieses Bild ganz gut: Wenn man im Auto fährt oder unterwegs ist, hört man Musik per MP3 oder eine CD. Aber wenn man nach Hause kommt, ein schönes Essen zubereitet, ein Glas Rotwein dazu trinkt, dann legt man eine Schallplatte auf. Das hat für mich mehr Tiefe, es hat etwas von Innehalten in einer immer schnelleren Welt.“

Die Zahlen scheinen Florian Kaps recht zu geben. Nach einem Artikel der Süddeutschen Zeitung ist der Anteil der verkauften Schallplatten von 400.000 Stück im Jahr 2006 auf 3,1 Millionen im Jahr 2016 angestiegen. Das hat natürlich nicht nur sinnliche Ursachen:

„Die Vinyl-Renaissance hat mehrere Gründe. Viele Musikfans schwören auf den angeblich besseren Sound von LPs. Ihnen gilt die Platte als Genussmittel, als Erlebnis und Möglichkeit, Musik bewusster zu hören. Einige zelebrieren schon das Auflegen einer LP geradezu. Und auch Künstler und Musiklabels befeuern die Rückkehr: Weil sie mit CDs weniger verdienen, suchen sie nach Alternativen. Alben werden daher zunehmend als Vinyl-Sondereditionen auf den Markt gebracht.“

Zum Anfassen: Wirklichkeitsmedien
Der wirtschaftliche Gedanke hinter der Belebung von – im digitalen Zeitalter fast historisch anmutender – „Mangelware“ ist also ein geschickter Schachzug, der auf Sinne und Geldbeutel gleichermaßen und damit auf fruchtbaren Boden trifft. Das zeigen auch die zahlreichen Neuveröffentlichungen im Printbereich, allen voran Titel wie Hygge (Das Magazin für das einfache Glück) und Cord (vormals Wolf), das selbsternannte Männermagazin für das Wesentliche. Gewiss, bei diesen Datenträgern handelt es sich selbstverständlich nicht um Mangelware. Ihr Untergang und mit ihm das Verschwinden der Printmedien wurde und wird jedoch wiederholt prophezeit – und das, obwohl die Wohlfühlzeitschriften in ihren Geschichten zahlreiche analoge Momente äußerst lebendig und greifbar auf Papier vereinen; herausnehmbare Extras wie Karten oder Lesezeichen zum Anfassen inklusive. „Alle Sinne anzusprechen – so gut wie Print kann das kein Medium“, bilanziert dementsprechend das Branchenmagazin Werben & Verkaufen (Irmela Schwab: So innovativ. In: W&V vom 6.11.2017, 24). Es sei die Haptik, die Print unschlagbar und Druckerzeugnisse zu Wirklichkeitsmedien mache, ergänzt Andrea Malgara, Geschäftsführer von Mediaplus, weiter.

Menschen haben Sehnsucht nach echten Erlebnissen. Ein Fazit der UBX 17

Wer sich ehrlich eingesteht, dass er gerne in Zeitungen, Zeitschriften und Büchern blättert, im Bullet Journal zeichnet, auf die Sofortbildkamera drückt, Stoffe verarbeitet oder in alten Vinylbeständen stöbert, gewinnt ein Stück Autonomie und Selbstbestimmtheit sowie eine gewisse Form von Leichtigkeit zurück. Gegenüber geschickten Marketingstrategen, die uns mit viel neurowissenschaftlichem Hintergrundwissen vorschnell zum Kaufen von noch mehr Erlebniswelten verführen wollen. Und gegenüber der persönlichen Auslegung und Definition von Minimalismus, die sich oftmals in einem Abhängigkeits- bzw. Wettbewerbsverhältnis von gesellschaftlichen Wertvorstellungen befindet.

Was für mich wertvoll und wichtig ist, bestimme am Ende nur ich selbst. Nicht besinnungslos, aber mit allen Sinnen.

#MoreMoments 9: Aussteigerleben auf der Edermühle

Leben, das ist das Allerseltenste in der Welt – die meisten Menschen existieren nur.
(Oscar Wilde)

Steffi und Christian kennen dieses Gefühl nur zu gut, das der irische Schriftsteller Oscar Wilde schon im 19. Jahrhundert in Worte zu fassen suchte: Ostern 2011 hat sie gerade einen mehrwöchigen Krankenhausaufenthalt sowie einen „klassischen Pflichtenalltag“ mit verschiedenen Ausbildungs- und Anstellungsverhältnissen hinter sich. 2011 befindet er sich nach einer langjährigen Hauptrolle in der Daily Soap „Marienhof“ und dem Tod seiner Mutter in einer schweren Sinnkrise. Zu diesem Zeitpunkt kreuzen sich ihre Wege zufällig durch einen Telefonanruf; irgendwo zwischen Österreich und Sachsen-Anhalt. Schnell wird beiden klar: Wir sehen die Welt mit denselben Augen und haben ein gemeinsames Ziel – ein Haus auf dem Land, fernab von den Großstädten Wien und München, wo sie zuletzt gelebt hatten.

Mehr als grüne Wiese: Steffi und Christian bieten Gästen auf der Edermühle ein vielfältiges Naturerlebnis an

Nach einigen Zwischenstationen im Salzburger Land verschlägt es das junge Paar 2015 schließlich in die Gemeinde Bad Großpertholz im niederösterreichischen Waldviertel . Hier nehmen sie die sog. „Edermühle“ in Besitz, ein malerisches Anwesen aus dem 17. Jahrhundert mit etwa 1,8 Hektar Grund und zwei Fischteichen. Mit „viel Freude, Tränen, Schweiß, Herzblut, Höhen und Tiefen sowie sehr viel Zeit“ haben die Ex-Münchner den alten Vierkanthof renoviert und für jedermann erlebbar gemacht, inklusive Kreativtagen oder Urlaub im Mini-Bungalow.

Von der Tretmühle zur Edermühle

Über ihre Erlebnisse schreiben Steffi und Christian regelmäßig auf ihrer Webseite und in ihrem Newsletter, u.a. zur Frage, „wie es sich denn so auf’m Land lebt“. Christians Fazit: „Man hatte uns vor dem schrecklichen Landleben regelrecht gewarnt – weit und breit keine Geschäfte, Ärzte und Kulinarik, alles nur mit dem Auto erreichbar, keine Jobs, Vereinsamung, dieses rück- und engstirnige Landvolk, keine Kultur und überhaupt alles ganz, ganz, gaaaaanz schrecklich. Ach ja, und ohne Verein geht gar nix! Was soll ich sagen – sie hatten recht und zwar mit allem!“ Die ganze „Bilanz“ des Landlebens angereichert mit einer gehörigen Portion Selbstironie könnt Ihr direkt auf der Webseite der Edermühle nachlesen.

Uns hat Christian in einem Gastbeitrag verraten, was sein „neues“ Leben fernab von „Bussi-Bussi-Partys“ aus seiner Schauspieler-Zeit eigentlich mit Minimalismus zu tun hat. Schonungslos offen.

Nackte Zahlen und ein Plädoyer fürs minimalistische Landleben
Minimalismus bedeutet auch, sich wieder auf wesentliche Dinge zu konzentrieren. Und was könnte wesentlicher als die Natur sein? Wir kommen trotz eines Vierkanthofs mit 18.000 m² Grund, zwei Forellenteichen und einem nicht gerade kleinen Tierbestand mit weniger Geld aus als in einer Drei-Zimmerwohnung bei München.

  1. Inklusive Vollsanierung hat der Mühlenhof in etwa 190.000 Euro weniger gekostet als die genannte Wohnung. Natürlich werden jetzt Äpfel mit Birnen verglichen. Denn wenn wir mit einer Drei-Zimmerwohnung bei uns in der Gegend rechnen würden, dann wären wir bei einem Preisunterschied von über 400.000 Euro (wohlgemerkt ohne Kreditzinsen). Bei einem ähnlichen Hof wie unserem lägen wir bei einem Radius von ca. 50 Kilometern rund um München bereits bei einem Kaufpreis von rund zwei Millionen Euro. Den entsprechenden Job in der Stadt muss man erst einmal haben, um die Differenz zu erwirtschaften.
  2. Wenn man hier zu zweit zum Essen geht, dann zahlt man beispielsweise bei Sushi nur die Hälfte des Preises gegenüber einem entsprechenden Lokal in München. Die Qualität ist bei uns aber dieselbe. Bei anderen Lokalitäten sieht es ähnlich aus.
  3. Wir fahren keinen BMW 1er mehr, der in der Anschaffung mit ca. 26.000 Euro zu Buche schlägt, sondern einen Dacia Dokker Van, der für ca. 8.000 Euro neu zu haben ist; von günstigeren Servicekosten ganz zu schweigen. Meine Erfahrung: Natürlich kann man auch in der Stadt ein günstigeres Auto fahren. Aber zu einem Geschäftstermin in München mit einem Dacia zu kommen ist trotzdem etwas anderes als auf dem Land. Deswegen gibt‘s vermutlich auch eher weniger Dacias in München.
  4. Als Selbständige brauchen wir im Gegensatz zu München keinen Kleiderschrank mehr, der ausschließlich aus Markenklamotten besteht und sich jedes Frühjahr dem neuen Modetrend anpassen muss. Nein, auf dem Land zählt dann doch eher die Persönlichkeit, das Menschliche, und es reicht aus, „normal“ und ordentlich angezogen zu sein. Wenn ich daran denke, wie viel ich zu meinen Münchner Zeiten für Kleidung ausgegeben habe, dann wird mir fast schlecht: Umgerechnet habe ich da bestimmt die eine oder andere Schafherde verbummelt… Auch wenn Steffi und ich es nicht verlernt haben, uns schick anzuziehen, so hat Kleidung bei uns doch wieder eher eine „gebrauchsgegenständliche“ und somit ursprünglichere Funktion bekommen.
  5. Auf dem Land trifft man sich nicht auf der Leopoldstraße auf einen Cappuccino für 3,50 Euro oder einen Mittagshappen für 15 Euro, sondern direkt zu Hause. Aufs Jahr gerechnet macht das einiges aus – der Spaßfaktor ist jedoch exakt derselbe, wohlgemerkt.
  6. Steffi und ich teilen uns ein Handy. In der Stadt würde man uns für verrückt erklären oder zumindest für ein Paar halten, das nur im Partnerlook auftritt. Auf dem Land ist das ziemlich normal.
  7. Einen Fernseher haben wir nicht; wie viele Minimalisten in der Stadt vermutlich auch. Aber abgesehen davon, dass man in Österreich dann keine GEZ (GIS) zahlen muss, ist es auf dem Land leichter, sich anderweitig zu beschäftigen als in der nicht ganz billigen City.
  8. Stichwort „Nahrungsmittel. Hier konzentrieren wir uns einfach wieder auf das Wesentliche. Die einheimische Qualität ist unschlagbar. Selbst wenn wir auf dem Hof zwei bis drei Stunden arbeiten müssen anstelle einer Stunde im Büro, um uns diese Qualität kaufen zu können, so ist die Arbeit auf dem Hof greifbarer und befriedigender. Gleichzeitig benötigen wir durch die Produkte, die wir selbst am Hof erwirtschaften, weniger Geld für Lebensmittel.
  9. Klar kann man heute fast alles im Internet kaufen. Aber es macht doch einen Unterschied, ob beim Verlassen des Hauses 1.000 Konsummöglichkeiten auf mich einschlagen oder nicht. Wenn wir meinen Vater in München besuchen, merken wir diesen Unterschied zur Stadt besonders stark. Es scheint, als schreie einen der Konsum förmlich an.

Natur (er-)leben: Steffi mit Neuzugang Antonio (u.r.). Screenshot vom Instagram-Account @ edermuehle

Fazit
Lange Rede kurzer Sinn: Minimalismus kann auch bedeuten, im ersten Schritt auf den Status „Stadt“ zu verzichten. Diesen Status zahlst Du – ob Du willst oder nicht – allein bei Deinem Dach über dem Kopf doppelt und dreifach mit. Selbst wenn Minimalismus so radikal ausgelegt wird, dass man auf alles verzichtet, was man nicht unbedingt braucht (also auch auf einen Vierkanthof namens Edermühle), dann scheint dennoch das Landleben nach Betrachtung der emotionslosen Zahlen als erste Priorität übrigzubleiben. Der größte Kostenfaktor in der heutigen Zeit ist traurigerweise das Dach über dem Kopf. Und dabei spielt es keine Rolle, ob es eine WG, ein Appartement, eine Wohnung oder am Ende ein Haus ist. Wenn man Minimalismus etwas liberaler auslegt und ihn im ersten Schritt „nur“ mit mehr Lebensqualität verbindet, so sollte ein Leben auf dem Land meiner Meinung und Erfahrung nach erst recht in Erwägung gezogen werden.

Unbestritten ist aber natürlich auch, dass Lebensqualität für jeden etwas anderes bedeutet.

Lieber Christian, wir sagen herzlichen Dank für Deinen Gastbeitrag! Alle Abbildungen © privat.

Wer Steffi und Christian auf ihrem Weg begleiten will, bitte hier entlang: www.edermühle.at.

More Moments.
Du willst anderen Menschen zeigen, was Dein Leben erfüllt, was Dich wirklich glücklich macht und bereichert? Du „sammelst“ lieber schöne Momente als Dinge und verbringst Zeit mit etwas Wertvollerem als mit „compulsory consumption“? Dann melde Dich bei uns und erzähle Deine (Minimalismus-)Geschichte. Wir freuen uns auf Dich.

#MoreMoments. Was wirklich wertvoll ist im Leben. Die aktuelle Blogserie auf Minimalismus21. Alle (vorherigen) Teile der Serie findet ihr unter dem Suchbegriff #MoreMoments rechts oben (Lupe) und natürlich bei Twitter. Zu Teil 1 und Teil 2 sowie zu Teil 3, Teil 4, Teil 5 und Teil 6, Teil 7 sowie Teil 8.

München Secondhand: Pick & Weight

Secondhand spielt in meinem Verständnis von Minimalismus eine große Rolle. Meine persönliche Meinung ist: Im Grunde wurde (fast) alles schon produziert, was wir brauchen oder wollen. Allein im Textilbereich werden in Deutschland pro Jahr schätzungsweise über eine Million Tonnen aussortiert, die aber keineswegs für die Tonne sind. Eine unvorstellbare Menge, die zudem durch einen immensen Energie- und Ressourcenverbrauch bei der Herstellung ins Gewicht fällt. In Zahlen liest sich das nach Angaben des bvse-Fachverbands Sonderabfallwirtschaft dann beispielsweise so:

Die Wiederverwendung von Altkleidern spart im Vergleich zur Produktion von neuer Kleidung Ressourcen ein. Der Anbau von Baumwolle als Rohstoff für die Textilindustrie ist sehr wasserintensiv. Nach Berechnungen des Statistischen Bundesamts beläuft sich der Wasserbedarf von einer Tonne Rohbaumwolle auf durchschnittlich rund 3.600 Kubikmeter. […] Eine Studie aus Großbritannien hat außerdem gezeigt, dass durch den Wiedereinsatz eines T-Shirts drei Kilogramm CO2 eingespart werden können.

Weniger Neu, mehr Gebraucht
Und dieser Wiedereinsatz spiegelt sich bereits seit längerer Zeit in meiner Garderobe wider. Egal, welche Outfit-Kombination ich wähle: Fast immer ist mindestens ein Teil aus zweiter Hand dabei. Tendenz steigend. Denn rund 80 bis 90 Prozent meiner „Neuanschaffungen“ haben mittlerweile ein Vorleben im Gepäck; nicht nur bei Kleidung. Am liebsten stöbere ich dabei auf den zahlreichen Flohmärkten rund um München, die einer riesigen Open-Air-Shopping-Mall gleichen. Was mich dort allerdings immer wieder von Neuem erschreckt: Der kurze Lebenszyklus der angebotenen Waren. Omas Lieblinge und Designklassiker stehen in Reih und Glied mit kaum bis überhaupt nicht getragenen bzw. benutzten Produkten, an denen Preisschilder und Etiketten hängen. Ein Einzelfall ist das nicht. Wer Neuware sucht, muss angesichts unserer Wegwerf- und Überflussgesellschaft nicht mehr zwangsweise ein klassisches Kaufhaus aufsuchen. Dennoch scheuen viele Menschen (noch) vor Flohmärkten zurück.

Unter dem Hash #WenigerNeumehrGebraucht versuchen wir daher bei Instagram eine Lanze für Vintage und Retro in seinen vielfältigen Facetten zu brechen – und zeigen in unregelmäßigen Abständen Alltagsgüter, die wir aus zweiter Hand erworben haben. Und die sind alles anders als verstaubt und altbacken. Inspiriert durch Sabine und ihren Blog A Hungry Mind möchten wir dieses Thema auf Minimalismus21 ausbauen. Die Hamburgerin stellt ihre Local Heros aus den Bereichen Food und Fair Fashion in wunderbaren Texten und Bildern vor. Allesamt Lieblingsadressen, die den eigenen Alltag besser machen, wie sie selbst sagt. Wir importieren diese Idee von der Alster an die Isar und präsentieren Euch ab sofort Flohmärkte und Shops, die Kleidung und Co. zu einem zweiten Leben verhelfen. Los geht’s mit dem Vintage Kilo Store Pick & Weight, den Ihr in Deutschland nicht nur in München, sondern auch in Berlin, Hamburg und Köln findet.

PicknWeight – München Maxvorstadt
„Individual style – no mass production – good quality – fair prices.“ Das alles verspricht die Eigenbeschreibung auf der Webseite. In der Filiale im Univiertel (Schellingstraße 24) türmen sich Klamotten in sämtlichen Formen und Mustern sowie unterschiedlicher Coleur inklusive Schuhen, Handtaschen und Accessoires wie Schmuck, Brillen, Uhren etc. Bezahlt wird nach Kilopreisen. Jedem Fundstück ist eine Farbe zugeordnet, dem wiederum ein Preis entspricht. Kunden können diesen vor dem Kauf mit einer Waage selbst ermitteln.

Wie viel Kilo Klamotten hätten Sie denn gerne?

Mehr PicknWeight

  • Breite Auswahl an Damen- und Herrenbekleidung mit etwa 10.000 Schätzen.
  • Individuelle Einzelstücke mit Flair und Geschichte jenseits aktueller Massenproduktion.
  • Transparente Preisgestaltung und etliche Schnäppchenangebote im Sale.
  • Sortierung/ Anordnung nach Farben und saisonale Stücke wie Trachtenmode zur Wiesn-Zeit.
  • Buntes Publikum aus aller Herren Länder, darunter Schüler und Studenten sowie mittelalte Minimalismus-Blogger.
  • Lockere Atmosphäre fernab von Bussi-Bussi und Schicki-Micki bei cooler, gediegener Innenraumgestaltung im hippem Shabby Chic.

Weniger PicknWeight

  • Eine – nämlich die einzige – Kabine. Mangels Umkleidemöglichkeiten in der Boxershort durch den Laden zu hüpfen, ist eine Frage des Alters. Und nicht jedermanns Geschmack.
  • Daraus folgt unmittelbar ein Minuspunkt für lange Wartezeiten und für Konsumenten, die mehr als die zulässigen acht Teile mit in die Garderobe schleppen.
  • Abgetragene Klamotten zu überzogenen Kilopreisen. Hier: Der Versuch, eine „neue“ Jeans für Herrn M21er zu finden. Fast 35 Euro für rund 800 Gramm durchgescheuerten Stoff samt ausgefransten Saum verleiten schnell zu einem Neukauf beim Billigheimer von nebenan. Dafür zieht’s dann nicht im Schritt.
  • Olfaktorischer Overkill zwischen Schluppenbluse und Cowboystiefel, mit dem sich einige Kunden hörbar schwer getan haben. Als langjährige Flohmarktgänger können wir darüber allerdings nur die Nase rümpfen.
  • Fehlende und/oder kryptische Größenangaben – die wiederum den Run auf die einzige Kabine vergrößern.
  • Unklares Corporate Design: Wollt Ihr jetzt Pick & Weight oder PicknWeight oder PICKNWEIGHT geschrieben werden ;-)?
  • Kommunikationspolitik: Auf wiederholte Nachfrage (E-Mail an Geschäftsführung) zu den Bezugsquellen der Kleidung hüllte sich das Unternehmen in konsequentes Schweigen.
  • Laut einem Bericht der Süddeutschen Zeitung vom 5. Oktober 2017 „liefert die Mutterfirma Soex 10.000 Kilo Vintage aus Deutschland, den USA und Japan.“ Soex wiederum gibt auf der Firmenwebseite lediglich an, die Ware von verschiedenen Partnern zu erhalten. Fest steht: Die Internationalität der Zulieferer beschreibt eine Entwicklung, die Kirsten Brodde von Greenpeace in einem Interview mit dem Tagesspiegel zu Recht kritisiert: „Ich denke, dass es weitaus besser ist, den Markt lokal zu bedienen. Es ist nicht so, als hätten wir hier zu wenige Angebote. Da muss der Second-Hand-Markt nicht globalisiert werden.“

Aussuchen, wiegen, mitnehmen: Der Vintagekilosale als Take Away

Öffnungszeiten:

MO-SA 10.30-20 Uhr bzw. 10.00-20.00 Uhr in der zweiten Filiale im Tal 15, 80331 München.

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Filmtipp zum Thema: The True Cost – Der Preis der Mode.

Lesetipp zum Thema: Verpackungsfrei einkaufen: Zero Waste Muc.