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#Reset 6: Zeit des Erwachens

Geschafft. Vor vier Tagen sind der Herr M21er und ich umgezogen. Und ich schreibe dieses kurze Update zwischen unausgepackten Kisten, zwischen anderen Wänden und anderen Nachbarn, um eine Uhrzeit am Sonntag, zu der noch eine herrliche Stille über der Stadt liegt. Doch in mir ist es unruhig. Mein Kopf ist voller unsortierter Gedanken. Innen und Außen sind durcheinandergewirbelt, ja nahezu chaotisch. Und das Schlimmste: Ich verspüre Gefühle von „Heimweh“. Zwölf Jahre haben wir in der alten Wohnung gelebt, gelacht, geweint, gehaust, haben unsere ersten richtigen Jobs begonnen, Höhen und Tiefen, gute Zeiten, schlechtere Zeiten durchlaufen. Versteht mich nicht falsch. Ich bin wahnsinnig dankbar, die Chance für einen Wohnungswechsel bekommen zu haben. Denn wer aufmerksam mitgelesen hat, weiß, dass wir über ein Jahrzehnt auf diese Möglichkeit gewartet haben. Stichwort: Genossenschaft. Doch nun ist sie weg, die Zeit, die wir in der bisherigen Form in vertrauter Umgebung hatten. Wir können seit ein paar Stunden von unseren Fenstern auf die abgelegten vier Wände blicken. Wie auf ein zurückgelassenes Leben. Das kann man albern finden. Oder sentimental. Aber ich merke: Mit den Jahren bin auch ich offensichtlich zu dem sprichwörtlichen „Baum“ geworden, der sich nicht mehr so gerne verpflanzen lässt. Eine Frage des Alters? Spießig? Vielleicht.

Aufbruch ins neue Leben
Jedes Ende ist auch ein neuer Anfang, heißt es. Ich sage: Jeder Anfang ist auch ein Ende. Von alten Gewohnheiten, Tagesabläufen, Mustern und Ritualen, die wie selbstverständlich ins Blut übergegangen sind. Das aktuelle Haus riecht „fremd“, die Nachbarn „beschnuppern“ uns und wir sie. Nichts ist mehr an seinem alten Platz. Mein ganzes Leben wandert aus den Umzugskisten durch meine Hände, wird begutachtet, auf Wertig- und Wichtigkeit überprüft, in Frage gestellt, für gut befunden oder schlimmsten- bzw. bestenfalls freigelassen für einen anderen Besitzer und ein anderes Leben; je nachdem, mit welcher Perspektive man darauf blickt. Obwohl wir in den letzten Wochen noch einmal kräftig ausgemistet, reduziert und losgelassen haben, wirkt der Umzug auf den Minimalisten in mir – übertrieben gesagt – wie eine Schocktherapie. Denn:

1. Nach meinen heutigen Maßstäben besitze(n) ich/wir immer noch zu viele Dinge. Punkt. Das lässt sich nicht wegreden. Wie viel Fassungsvermögen Schränke und Co. wirklich haben, ist mir erst jetzt erschreckend bewusst geworden. Die Zeit des Erwachens schmerzt sehr. Weil ich grundsätzlich stolz darauf gewesen bin, bereits viele Besitztümer abgegeben zu haben. Nun bleibt das Gefühl zurück, dass genug einfach (noch) nicht genug ist. Eine unangenehme Emotion, die mich blockiert und frustriert.

2. Ich hatte einen Plan. Nämlich nur die Dinge aus den Umzugskisten zu nehmen, die Status Quo zu 150% in meinem Bestand bleiben sollen und die mir wirklich etwas bedeuten. Die Idee dahinter: eine Form von Magic Cleaning. Genauer gesagt: Ich wollte wissen, wie es sich anfühlt und wie ich mich fühle, wenn nur noch meine Lieblingsstücke in der Wohnung zu finden sind. Ich hatte gehofft, dass mich dieses heimische Utopia beflügeln würde. Und zwar in einem Maße, welches es mir erlaubt, den Rest der Kisten einfach ungesehen wegzugeben. Weil sich das befreiende Gefühl eines reduzierten Lebens und Alltags zu gut anfühlen, nach Freiheit und Loslassen schmecken würde. Was soll ich sagen? Maximal gescheitert? Ja, irgendwie schon.

M21_Turtleboxen

Unser Leben in Turtleboxen. Nachteil der Boxen: zu groß, zu viel Eigengewicht. Vollmachen? Fehlanzeige!

3. Punkt 3 ist schuld daran. Zumindest ein bisschen. Wir sind mit sog. „Turtleboxen“ umgezogen (und ein paar geliehenen Pappkisten). Das Prinzip ist simpel. Anzahl der Boxen wählen, liefern und wieder abholen lassen. Vorteil laut Anbieter: „Umzugskartons werden im Durschschnitt zweimal verwendet und sind so ein klassisches „Wegwerfprodukt.“ TurtleBoxen hingegen sind aus 100% recycelbarem Kunststoff hergestellt und werden bis zu 600 Mal wiederverwendet. Pro Verwendung verursacht eine TurtleBox 23 g CO2, ein Umzugskarton 286 g CO2, also mehr als 12-Mal soviel. Mit TurtleBoxen sparen Sie Tonnen an Papiermüll und CO2.“ Das Konzept hat uns sofort überzeugt! Weil jede einzelne Woche Lagerzeit bzw. Miete jedoch bares Geld kostet, hatten wir den Druck, unseren Krempel so schnell wie möglich wieder auszupacken. Punkt 2 ist damit allerdings Essig. Und zwar von der sauersten Sorte.

Minimalismus, wir müssen reden
Doch ich will nicht den Kopf wie eine Schildkröte einziehen. Sondern ich will weitermachen. Nach dem Motto: Jetzt erst recht. #Reset. Alles auf Anfang ist noch längst nicht am Ende. Mein Minimalismus, Du und ich, wir müssen noch einmal miteinander reden. Uns neu justieren und hinterfragen. Vielleicht die Spielregeln ein wenig modifizieren. Der mittelalte Baum hatte zwar mächtige Wurzeln geschlagen. Doch er ist bereit, sich grundsätzlich anders zu verästeln.

Seid ihr dabei?

#Reset. Alles auf Anfang. Die aktuelle Blogserie auf Minimalismus21.

Begleitet uns in den nächsten Wochen bei unserem Einzug in ein neues Leben. Alle vorherigen Teile der Serie findet ihr unter dem Suchbegriff #Reset rechts oben (Lupe) und natürlich bei Twitter.

Nachlese: Die Alm. Ein Ort für die Seele

Sabbatical, Downshifting, Auszeit. Viele Menschen träumen davon, Job und Alltag einmal den Rücken zu kehren bzw. Arbeitstunden zu reduzieren. Martina Fischer hat sich diesen Traum erfüllt. Vier Sommer verbrachte die gelernte Krankenschwester und Ernährungsberaterin auf verschiedenen bayerischen Almen. Aus den Lebensweisheiten, Geschichten und Rezepte(n) der „Teilzeit-Sennerin“ ist ein wundervolles Buch entstanden, das den Leser in eine Welt ohne feste Tages- und Wochenpläne entführt. (Un-)freiwilliger Minimalismus und positive Redundanzen inklusive.

Tagesablauf auf der Alm

MartinaFischer

Martina Fischer © Luise Tutschka

Denn die Bewirtschaftung der mehrere Hektar großen Gebiete und die Versorgung der Nutztiere erfordern zu jeder Jahreszeit ein kontinuierliches Maß an körperlichem und psychischem Einsatz. Wie kräftezehrend und nervenaufreibend das sein kann, daraus macht Fischer an keiner Stelle einen Hehl. Und das Leben auf der Alm erfordert eine spezielle Form von Achtsamkeit. Sie ist resistent gegen Zeitmanagement und Effizienzsteigerung in einer als  – ach so fröhlichen – Hochleistungskultur beschriebenen modernen Gesellschaft. Wer sich auf die Erfahrung AlmerIn einlässt, stellt schnell fest: Der Mensch muss sich an den Rhythmus von Natur und Tieren anpassen, loslassen und die Langsamkeit (der Kühe) akzeptieren lernen. Die Uhr darf keinerlei Rolle spielen.

Genussvolle Lektüre
Die Alm
stellt keinen wildromantischen Tatsachenbericht dar, sondern beschreibt den typischen Tagesablauf in all seinen Facetten – vom Einheizen, Buttern, Kühe holen und melken bis hin zur Bewirtung der Hüttenkäste. 17-Stunden-Tage sind hier keine Seltenheit und weit vom klassischen nine-to-five entfernt. Melken und Milchverarbeitung gliedern die Wochen, immer gleiche Abläufe geben sich mit wenigen Ausnahmen die Klinke in die Hand. Schlafmangel ist eine der größten Belastungen, Wind und Wetter sorgen für entsprechende Hochs und Tiefs, auch der eigenen Stimmung. Manchmal ist dann selbst in den Bergen mehr Platz für Hektik und Ungeduld als für Gelassenheit.

M21Kuchen

Topfenkuchen: Rezept aus „Die Alm“ – aufgetischt im Hause Minimalismus21

Fazit
Trotz schonungslosem Realismus ist die Lektüre der 240 Seiten ein reiner Genuss. Aufmachung, Bildauswahl und nicht zuletzt zahlreiche Rezepte verfehlen ihre Wirkung nicht. Selten werden beim Lesen so viele Sinne angesprochen, werden kleine Weisheiten in einfache Sprache verpackt und Aufmerksameit und Wahrnehmung für scheinbar alltägliche Dinge geschärft. Wer oft das Gefühl hat, überfrachtet oder Opfer der Schnellebigkeit zu sein, wer verschnaufen oder einfach nur kurz innehalten möchte, dem sei diese Lektüre wärmstens empfohlen. Ein Buch zum Ankommen und Zurückkommen, zum Umdenken und Innehalten.

Für das Rezensionsexemplar bedanken wir uns beim kailash Verlag:

Die Alm - Ein Ort fuer die Seele von Dorothea Steinbacher

Die Alm – Ein Ort fuer die Seele von Dorothea Steinbacher

Martina Fischer
Dorothea Steinbacher

Die Alm
Ein Ort für die Seele
Lebensweisheiten, Geschichten und Rezepte einer Sennerin

Gebundenes Buch mit Schutzumschlag
kailash 2016 (19,99 Euro)

Gastbeitrag: Eine Ordnungsberaterin erzählt

Es ist jetzt fast vier Jahre her, dass ich mich als Ordnungsberaterin selbstständig gemacht habe. Noch immer habe ich auf die Frage, womit ich mein Geld verdiene, keine kurze, prägnante Antwort parat. „Ordnungsberaterin“ ist eigentlich ein unzulänglicher Begriff. Er beschreibt nicht annähernd, was ich tue, wenn ich mit Kunden arbeite. Ebensowenig gibt er wieder, was meine Kunden und ich erreichen, wenn wir uns gemeinsam Zimmer um Zimmer vornehmen.

Das Ende der Komfortzone
Fast alle, denen ich meine Arbeit beschreibe, erklären anschließend entweder, sie könnten meine Hilfe eigentlich ebenso brauchen oder sie kennen jemanden, der sie brauchen könnte. Fast immer folgt dann die Frage, ob ich viel mit Messies zu tun habe. Nein, habe ich fast gar nicht. Der allergrößte Teil meiner Kunden ist einfach aus verschiedenen Gründen überfordert. Aber sie wollen ihre Situation ändern und sind dafür bereit, aus ihrer Komfortzone zu treten. Ich bekomme wohl hin und wieder Anfragen von Messies und bin auch zu Erstgesprächen dort. Die Angst vor Veränderung überwiegt aber in fast allen Fällen den aktuellen Leidensdruck. Daher kommt es fast nie zu einer Zusammenarbeit.

Ein Motor namens Ordnungsberaterin
Es gibt große Unterschiede zwischen meinen Kunden und ihren Wohnsituationen, aber eine Gemeinsamkeit: der Wunsch, sich endlich wieder in den eigenen vier Wänden frei zu fühlen. Frei von Ballast. Frei von den Gedanken an das herrschende Chaos. Frei von der Belastung, die Aufgabe endlich anzugehen. Frei von dem Gefühl, sich der Aufgabe nicht gewachsen zu fühlen. Frei vom ewigen Aufschieben. Es gibt Menschen, die mich um Hilfe bitten, weil sie schlicht nicht wissen, wie sie das Ausmisten angehen sollen. Wie sie Struktur in ihre Wohnung bringen können. Diese Kunden haben meist überhaupt kein Problem, sich von Dingen zu trennen. Sie wissen genau: Wenn sie ihr Ziel erreichen wollen, müssen sie über ihren Schatten springen und sie sind dazu bereit. In diesen Fällen bin ich der Motor, der die Arbeit am Laufen hält, motiviert und hin und wieder einen Hinweis gibt. Die Entscheidungen fallen zügig und es geht dann nur noch darum, wo man die ausgemisteten Sachen sinnvoll unterbringt. Nur die wenigsten Dinge werden wirklich entsorgt. Für das allermeiste gibt es dankbare Abnehmer.

Katrin_schafft_Platz_1

Viele meiner Kunden aber hätten gerne ein Wunder von mir: bloß nichts ausmisten, aber trotzdem mehr Platz und Ordnung. Wenn wir dann darüber diskutieren, ob der zweite – ohnehin kaputte – Pfannenwender ausgemistet werden soll, kann ich die aufsteigende Panik körperlich mitempfinden; so groß ist sie. Ich sehe, welche Szenarien vor ihren Augen entstehen: Was ist, wenn der andere Pfannenwender auch kaputt geht? Was, wenn ich mal zwei Pfannenwender gleichzeitig brauche? Das sind keine lächerlichen Szenarien. Die Angst ist real und macht diesen Menschen wirklich zu schaffen. Sie lähmt sie, macht sie handlungsunfähig. Sie leben in der Angst, in der Zukunft mit einer Situation konfrontiert zu werden. Und sie haben kein Vertrauen in sich, diese Situation bewältigen zu können. Aus diesem Grund werden viele Dinge mehrfach angeschafft, die dann oft jahrelang originalverpackt in den Schränken liegen. Tchibo und Aldi stellen sich da als großartige Jagdgründe heraus. Oft hilft es, die Vorstellung bis zum Ende zu denken und ihr so den Schrecken zu nehmen. Dann darf auch der Pfannenwender gehen.

Entrümpelfalle Erinnerung
Zugleich leben diese Menschen sehr in der Vergangenheit und können sich nicht von Dingen trennen, die mit Erinnerungen verbunden sind. Da fallen einem zunächst natürlich Fotos und Briefe ein. Es können aber genauso Schuhe sein, die man in einem besonders schönen Urlaub immer getragen hat. Unmengen an Bastelarbeiten der Kinder. Schon arg angeschlagenes Geschirr von den Großeltern. Auch hier gilt: Der Gedanke, sich von den Stücken zu trennen, löst sofort Angst aus. Angst, die Erinnerung gemeinsam mit dem Gegenstand zu verlieren. In der eigenen Vorstellung ist das Ding untrennbar mit dem Vermögen verknüpft, sich zu erinnern. Es ist völlig in Ordnung, einen Kaffeebecher mit Macken aufzuheben – wenn man daraus trinkt und sich dabei an das gemeinsame Kaffeetrinken mit dem Opa erinnert. Dann würde ich auch lieber einen intakten Becher ausmisten. Wenn aber der Opa-Becher im hintersten Winkel des Schrankes oder sogar in einer Kiste im Keller steht, ist die Sache mit der Erinnerung nur ein Vorwand.

Übung macht den (Ausmist-)Meister
Mit zunehmenden Vertrauen bzw. zunehmender Übung gelingt es jedoch leichter, und diese Kunden kommen ihrem Ziel Stück für Stück näher. Und auch sich selbst. Jeder Gegenstand, der gehen darf, zeigt auf der anderen Seite, was bleiben muss. Zeigt, was dem Menschen wirklich wichtig und wertvoll ist und was das Leben bereichert. Da gibt es immer Aha-Erlebnisse. Zugleich wächst das Vertrauen in die eigene Person: Denn wen man gut kennt, dem kann man besser vertrauen. Besonders gut gelingt das, wenn man sich den „Das mach ich, wenn ich Zeit habe“-Projekten annimmt. Kisten mit Urlaubsmaterial warten darauf, in ein Album geklebt zu werden. Vorhänge darauf, genäht zu werden. Hanteln wollen gestemmt werden. Und mein allerbeliebestes Beispiel: Hometrainer warten darauf, getreten zu werden. Die Utensilien nehmen teilweise nicht nur wirklich viel Platz weg, sondern sie erinnern einen ständig daran, sich dem Projekt doch endlich einmal anzunehmen. Hallo, schlechtes Gewissen. Mein Rat: Noch diese Woche loslegen und sehen, wie es sich anfühlt. Vielleicht entdeckt man ja wirklich eine neue Leidenschaft. Wenn nicht, bitte trennen. Das schlechte Gewissen, das gleichzeitig verschwindet, wird niemand vermissen. Sich einzugestehen, wer man nicht ist (Hantelstemmerin, Vorhangnäher), ist vielleicht in manchen Fällen unangenehm. Aber sehr befreiend. Denn es zeigt zugleich, wer man ist.

Über die Autorin
Katrin_Misere
Katrin arbeitet seit 2012 als Ordnungsberaterin in Wien und Umgebung. Sie hilft Menschen, die ihren Wohnraum zurückerobern und sich in ihren Wänden endlich zuhause fühlen möchten. Sie unterstützt beim Ausmisten und schafft Strukturen – egal ob im Keller, im Büro, im Kleiderschrank oder im Kinderzimmer.

Mehr Infos unter www.katrin-schafft-platz.at.

Alle Abbildungen mit freundlicher Genehmigung von katrin-schafft-platz.at