Nachlese & Seitenblicke
Kommentare 7

Nachlese: Adieu, Wachstum! (Norbert Nicoll)

Wir schreiben das Jahr 1900. An der Schwelle zum 20. Jahrhundert besaß der mitteleuropäische Haushalt durchschnittlich 400 Gegenstände. Eine traumhafte Vorstellung für viele „moderne“ Minimalisten. Ein Alptraum für die Wirtschaft. Denn sie trichtert den Menschen nur ein Ziel ein: Nicht mit dem Kaufen aufhören. Um diese Maschinerie am Laufen zu halten, forciert die Industrie ein perfides Wechselspiel aus geplanter Obsoleszenz, Krediten und Werbung. Und das äußerst erfolgreich. In den Industriestaaten scheint der Konsum von Wohlstandsballast kein Ende zu kennen, obwohl 80 Prozent aller erworbenen Güter lediglich einmal ge- bzw. benutzt werden. Das hat massive Auswirkungen auf Gegenwart und Zukunft. Denn ein dauerhaftes exponentielles Wachstum ist auf einem endlichen Planeten unmöglich. Für unser kapitalistisches System bedeutet das: Mit Wachstum gehen wir unter den gegebenen Bedingungen zugrunde, ohne Wachstum aber auch. Warum das so ist, hat Norbert Nicoll in seiner interdisziplinären Darstellung Adieu, Wachstum! Das Ende einer Erfolgsgeschichte umfassend dargestellt.

Eine interdisziplinäre Geschichte der kapitalistischen Wachstumsidee
Geologie, Geschichte, Ökologie, Ökonomie, Politik, Soziologie: Der promovierte Politikwissenschaftler Nicoll nimmt den Leser mit auf eine Reise, die den Homo Sapiens in seiner ganzen Entwicklung sowie Widersprüchlichkeit zeigt. Wer bspw. versteht, wie mentale Einstellungen zustande kommen und programmiert werden, versteht auch, warum etwa die Forderung nach Verzicht oder Beschränkung auf wenig Gegenliebe oder sogar Ablehnung stößt. Dazu kommt: Wir leben in einer extrem arbeitsteiligen Gesellschaft und damit in sogenannten „Parallelwelten“. Zwischen dem Warenangebot in den Geschäften und den Produktionsorten liegt in den meisten Fällen eine räumliche Entfernung, die gleichzeitig mentale Distanz schafft. Verschmutzte Gewässer, abgeholzte Regenwälder und Smartphones aus Kinderarbeit erleben wir nicht unmittelbar vor unserer eigenen Haustür. Wir sehen nicht, wie umweltschädliche Industriezweige in Dritte-Welt-Länder abwandern und dort Lebewesen und Natur verseuchen. Das schafft zumindest partiell eine grüne Blase.

Norbert Nicoll hat ein Standardwerk zur Erfolgsgeschichte Wachstum und zu ihren Schattenseiten geschrieben

Lustgewinn Konsum
Dazu kommt zweitens: Aus naturwissenschaftlicher Sicht agiert der Mensch als Dopaminjunkie, da unsere Gehirnstrukturen seit Zehntausenden von Jahren auf unmittelbare Belohnung ausgerichtet sind. Die süßen Früchte im Urwald lösten beim Steinzeitmenschen ebenso Motivation, Lust und positive Stimulation aus wie ein steigender Börsenkurs beim Aktienhändler und ein Shoppingexzess im Kaufhaus. Kurzfristige Befriedigung wird dabei höher eingeschätzt als langfristiger Nutzen. Diese Grundlagen muss man kennen, um zu verstehen, wie wir wurden, was wir sind. Als Entschuldigung für mangelnde Alltagsreflexion und Egoismus hält die Programmierung in unseren Köpfen jedoch längst nicht mehr stand. Die systematische „Übernutzung“ der Ressourcen zieht eine unweigerliche Erschöpfung derselben nach sich, wie sie sich besonders im Bereich der fossilen Energien zeigt. Nicht ohne Grund hat der Autor Peak Oil und Peak Everything zwei ausführliche Kapitel gewidmet.

Trotz umfangreichem Fußnotenapparat versteht es der Politikwissenschaftler dank flotter Schreibe, überschaubaren Unterkapiteln sowie prägnanten Zusammenfassungen, den Leser zu jeder Zeit zu fesseln und abzuholen – sozusagen „Was ist was“ oder besser „Wie verhält sich was zu was“ für Erwachsene. Das Sachbuch punktet mit umfangreichen Grafiken und Zahlenmaterial, welches mich bei der Lektüre manchmal fast ein wenig schwindelig gemacht hat. Oder wusstet Ihr, dass weltweit stündlich rund 675 Tonnen Müll in den Meeren entsorgt (die Hälfte davon Kunststoffe), 60 Tonnen Rohstoffe pro Jahr und Kopf (Deutschland) verbraucht und ganze 71 Kilogramm „Natur“ in jedem Smartphone verbaut werden?

Was Das Ende einer Erfolgsgeschichte jedoch wirklich zu einer literarischen Erfolgsgeschichte macht, ist der Umgang bzw. die Aufhebung von vermeintlichen Alltagsweisheiten. Nicoll holt uns raus aus der scheinbar grünen Komfortzone, indem er eine Wissensakkumulation anbietet, die eine von zahlreichen notwendigen Voraussetzungen für Handlungen und Verhaltensänderungen ist. Selbst wenn es eine unbequeme Wahrheit sein mag: Die Einwohner der reichen Länder konsumieren zu viel Energie und überlasten die Systeme. Ein Verhalten, das übrigens kein Novum in der Geschichte ist. Schon die Römer waren Meister in Sachen Umweltzerstörung und trugen maßgeblich zur Abholzung der Wälder bei. Neu ist allerdings, dass wir mit Recycling, E-Autos, Photovoltaik, Fair Fashion und Co. glauben, in jedem Fall ökologisch bessere Alternativen bzw. Techniken gefunden zu haben. Weit gefehlt.

Norbert Nicoll: Adieu, Wachstum!

Diese Kröte(n) muss man am Ende der rund 430 Seiten schlucken. Genauso wie die Tatsache, dass das Buch keinen Rettungsplan und kein Punktekonzept anbietet. Helfen kann jedoch die Frage, in welcher Kultur wir künftig leben wollen. Ähnlich wie Robert Wringham („Ich bin raus. Wege aus der Arbeit, dem Konsum und der Verzweiflung“), Niko Paech („Befreiung vom Überfluss“) und der Dokumentarfilm „From Business to Being“ heizt Norbert Nicoll im positiven Sinne die Diskussion über die Postwachstumsgesellschaft von Morgen weiter an. Dass das Glück dabei ebenfalls an bestimme materielle Voraussetzungen gebunden ist, bleibt unbestritten. Dass jeder einzelne von uns dennoch einen effizienten Beitrag für einen umweltverträglichen Verbrauch von Energie und Materie leisten kann und muss, auch. Stichwort „Suffizienz“, was so viel meint, wie ressourcenintensive Konsum- und Lebensbereiche zu überdenken. Reparieren, regionaler Konsum, Secondhand, Sharingeconomy etc. sind dabei nur ein paar lebenswerte, alternative Modelle.

Gut leben. Statt unendlich wachsen
Freiwillig einfach zu leben, bedeutet suffizient zu leben. Freiwillige Einfachheit kann mit Konsumverweigerung, dem fast ausschließlichen Kaufen von Gebrauchtwaren oder mit der Entscheidung einhergehen, deutlich weniger zu arbeiten. Freiwillige Einfachheit bedeutet weniger Einkommen, weniger Güter und damit weniger materieller Konsum. Wer weniger Konsumausgaben hat, benötigt weniger Geld, hat aber mehr Zeit zur Muße […]. Freiwillige Einfachheit vermindert das Lebenstempo – sie wirkt entschleunigend.

Für das Rezensionsexemplar bedanken wir uns beim Tectum Verlag:

Alle Zitate nach Norbert Nicoll: Adieu, Wachstum! Das Ende einer Erfolgsgeschichte. Tectum Verlag, Marburg 2016 (18,95 Euro)

Alle Abbildungen mit freundlicher Genehmigung des Tectum Verlages.

7 Kommentare

  1. Ich habe ein ähnliches Buch von Fabian Schindler gelesen:“Das Ende der Megamaschine“, das auf eindrucksvolle Art und Weise die Grenzen des Wachstums aufzeigt und darstellt, warum unsere Zivilisation zum Scheitern verurteilt ist. Auch ein Buch, das man gelesen haben sollte. Seitdem lege ich einen anderen Blick auf die Dinge und auf unsere Gesellschaft.

    • M21 sagt

      Lieber Jürgen,

      vielen Dank für Deine Empfehlung – das Buch kannten wir noch gar nicht.
      Es klingt sehr spannend und lesenswert.

      Ein gutes neues Jahr und viele Grüße
      M21

  2. Vielen Dank für den Artikel und Buchtipp (und für Eure Seite – gerade entdeckt)! Mir erscheint die These vom Ende des (materiellen) Wachstums auch sehr plausibel, sowohl vom Kopf her (Zahlen, Daten, Fakten) als auch aus einem Bauchgefühl heraus. Die meisten Menschen, die ich kenne, sind ermüdet vom Hamsterrad aus Arbeit, Geldverdienen und Konsum. Trends wie Entschleunigung, Sinnfragen, Gemeinschaftlichkeit, Achtsamkeit, Meditation, Auszeiten, Minimalismus & Co. sprechen ja Bände. Ich denke, die neuen Wege werden immer stärker beschritten, auch wenn „die Megamaschine“ des Kapitalismus parallel noch eine Weile weiterlaufen wird.

    Ich erhoffe mir eine Beflügelung des Wandels auch vom Bedingungslosen Grundeinkommen (über das ja zurzeit verstärkt und breit diskutiert wird). Wenn Existenzangst und der Druck, unbedingt „irgendwie“ Geld verdienen zu müssen, aus dem gesellschaftlichen Überbau wegfallen, dürfte es leichter fallen, aus dem Hamsterrad auszusteigen, sich von übermäßigem Konsum ab- und anderen Lebensinhalten zuzuwenden (Stichwort „immaterielle Wertschöpfung“ wie z. B. mehr Muße, Miteinander, Teilen, Vertrauen, Offenheit, Empathie, Innerlichkeit/Spiritualität, …).

    Seit Kurzem gibt es einen Kinofilm, der gut zum Thema passt – wer mag: Zeit für Utopien (https://www.youtube.com/watch?v=fHgmiZKPwZE&t=23s).

    Liebe Grüße & nochmal danke für Eure zukunftsweisende Website! 🙂
    Dorothea

    • M21 sagt

      Liebe Dorothea,

      ganz herzlichen Dank für Deinen ausführlichen Kommentar zum Thema – und für den Kinotipp!

      Ich hatte bereits in einer Zeitschrift etwas über den Film gelesen, ihn jedoch wieder aus den Augen verloren. Gut, dass Du uns wieder daran erinnerst hast! Konntest Du ihn bereits sehen? Falls ja: Wie hat er Dir gefallen?

      Liebe Grüße und eine wunderbare Woche
      M21

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert