Minimalismus bedeutet Loslassen für mich. Allerdings sind damit schon längst nicht mehr nur haptische Dinge gemeint. Wer unserem Instagram-Account folgt, weiß: Vor Kurzem waren wir auf einem Retreat im Allgäu, genauer gesagt im Zen-Kloster Buchenberg. Titel der privaten Weiterbildung: Always Ohmmm. Eine spielerische Wortneuschöpfung nach meinem Geschmack. Aber mit ernstem Hintergrund:
„Auf der einen Seite sind wir überfordert durch unzählige Kommunikationskanäle. Auf der anderen Seite sind diese nicht mehr aus unserem Leben wegzudenken und erleichtern unser Alltagsleben. Obwohl wir doch ständig „on“ sind, fühlen sich viele Leader und Mitarbeiter in Unternehmen wenig „connected“, berichten über Sinnkrisen und suchen nach neuen Ufern für ihre Selbsentfaltung. Burnouts, gescheiterte Familien, fruchtlose Meetings und „low energy“ sind die Symptome unseres digitalen Zeitalters“, schreiben die Veranstalter auf ihrer Webseite.
Always on
Unter dem Motto „Mindful Leadership in the Digital Age“ beleuchteten zahlreiche Speaker aus Wissenschaft und Wirtschaft in Buchenberg die Frage, wie wir im digitalen Zeitalter achtsamer mit uns selbst und mit anderen umgehen können. Egal, ob wir in der Rolle als Führungskraft, als Privatperson oder irgendwo im weiten (Spannungs-)Feld dazwischen agieren.
Auch Nicola Rohner kennt diese Überlegung. Die studierte Innenarchitektin arbeitete jahrelang als Marketing-, Medien- und Salesspezialist, bis ein Burnout ihr Leben in neue Bahnen lenkte. Mittlerweile bietet die Münchnerin ein ganzheitliches Training und Coaching an, das Themengebiete wie Selbstorganisation und Zeitmanagement, positive Kommunikation sowie Mindfulness, Emotionale Intelligenz und Life Balance beinhaltet. In ihrem Vortrag ging Rohner der menschlichen Angst nach, etwas zu verpassen: Fear of Missing Out, kurz „FOMO“. Das Syndrom ist so weit verbreitet, dass es der Begriff 2013 ins Oxford Dictionary geschafft hat. Experten sprechen bei FOMO sogar von der ersten „Social-Media-Krankheit“, von einer Form der Fremdsteuerung, die uns im Griff und gefangen hält.
Mittendrin statt nur dabei
Verschiedene Motive befeuern FOMO, etwa der Wunsch, zur Herde gehören zu wollen und die (vermeintliche) Sicherheit, möglichst viele Eisen im Feuer zu haben – menschliche Grundbedürfnisse, die nach ständiger Befriedigung verlangen. Evolutionsbiologisch betrachtet eigentlich nichts Neues. Verhältnismäßig neu ist jedoch die Tatsache, dass wir dank Smartphones und Co (ausreichender Akku plus Internetzugang vorausgesetzt) fortwährend an einer zweiten, an einer digitalen Welt partizipieren können. Denn das Netz schläft nie. Jede Minute werden im Internet 16 Millionen Textnachrichten verschickt, über 450.000 Tweets abgesetzt und mehr als 46.000 Posts bei Instagram hochgeladen. Redaktionsschluss und Testbild als externe Grenzen existieren nicht. Eine News jagt die andere, ein Selfie das nächste, eine Option löst eine Vielzahl anderer Möglichkeiten ab. Und leitet neue ein.
Jede Entscheidung für etwas ist heute folglich nicht eine Entscheidung gegen Etwas, sondern gegen mehrere Etwas. Vergleichbar mit dem Versuch, im Supermarkt auf die Schnelle den einen, den richtigen Joghurt unter vielen zu finden. Wir leben in einer Endlos-Schankstunde, an der wir uns unermüdlich berauschen können oder an der wir zugrunde gehen. Das digitale Geschnatter versetzt uns in eine gefährliche Dauerpräsenz: Wie der Pawlowsche Hund lassen wir uns auf permanente Interaktion konditionieren und fürchten, kein Teil der schönen neuen Welt zu sein, nicht adäquat dazuzugehören.
Vom FOMO zum JOMO
Im Zen-Kloster Buchenberg haben wir den Hund an die Leine genommen. Ein Instagram-Bild von der Umgebung, eine Aufnahme von Zero-Waste-Expertin Milena Glimbovski. Danach war Schluss. Kein Gezwitscher, kein Geposte, kein Geblogge. Letzteres bis heute. Ist mir das schwer gefallen? Ja und nein. Der fehlende digitale Einsatz hat (analoge) Energie in mir freigesetzt, zum Beispiel für erneutes Ausmisten. Mit unvernebelten und unvermüllten Gedanken habe ich kritische Runden gedreht, an deren Ende ich mich mit freiem Geist der Herausforderung Loslassen stellen konnte. Denn für mich bedeutet Reduzieren alias Entrümpeln immer auch eine mentale Challenge. „Does it spark joy“ nach Marie Kondo? Würde ich den Gegenstand kaufen, wenn ich ihn am Flohmarkt gebraucht für einen Euro bekäme? Hat das Objekt oder die Beziehung noch einen würdevollen Platz in meinem Leben? Was ist mir wirklich wichtig?
Um diesen und ähnlichen Fragen nachzuspüren, braucht es mentalen Raum und eine gewisse Form der Selbstbestimmung. Dafür müssen wir uns im positiven Sinne wieder erlauben, etwas zu verpassen, sozusagen JOMO: The Joy of Missing Out. Für Nicola Rohner eine persönliche Hängematte. Ihr Plädoyer: Installiert „Ruhematten für den Geist“, damit sich neue Gewohnheiten herausbilden und frische Muster etablieren können.
In der Ruhe des Allgäus und mit eingeschränktem WLAN waren wir am Ende so nah an uns selbst wie schon lange nicht mehr. Und ebenso nah an fremden Menschen, die wir dort kennengelernt haben. Flüchtige, wahrhaftige Begegnungen in viel zu kurzer Zeit, aber mit intensiven Gesprächen und einem ehrlichen Interesse am Gegenüber. Mindful Leadership in the Digital Age, das ist mir bewusst geworden, muss zunächst als Achtsamkeit gegenüber uns selbst beginnen, quasi #MoreMoments und #MoreMindfulness. Ich freue mich schon darauf, in Zukunft mehr zu „verpassen“, um Platz für anderes zu gewinnen.