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Nachlese: Wir hier draußen (Andrea Hejlskov)

„Wir haben keine normalen Jobs, kein normales Einkommen, wir haben kein Geld oder besonders viel Besitz (man könnte sagen, wir haben ihn auf das Notwendigste reduziert), aber wir haben jede Menge Zeit und unsere Freiheit. Das würden wir nie wieder eintauschen wollen.“

Was die Dänin Andrea Hejlskov hier beschreibt, klingt im ersten Moment wie eine wildromantische Form von Minimalismus: Freiheit, Unabhängigkeit, sein eigener Herr sein. Doch es gibt eine Geschichte dahinter, eine wahre, beschwerliche Geschichte. Eine Geschichte, die erzählt, wie Andrea und ihr Mann Jeppe ihr altes Leben auf den Kopf stellten, ihre Jobs und die Wohnung kündigten und mit vier Kindern Zivilisation und „Normalbiographie“ gegen Wildnis und Waldhütte in Schweden tauschten. „Wir hier draußen. Eine Familie zieht in den Wald“ zeichnet den radikalen Ausstieg der Familie zum ersten Mal in deutscher Übersetzung auf rund 300 Seiten nach. Und dem Leser wird schnell klar: Dieses Buch aus dem mairisch Verlag ist Aufbruch und Aufschrei in einem.

Andrea Hejlskov: Wir hier draußen

Einfach einfach leben?
Dabei beginnt alles ganz harmlos. Nämlich mit einer poetischen, fast lyrisch anmutenden Sprache. Mit einem Cover und einem Titel, die nicht sofort erahnen lassen, dass Bilder und Worte nur Deckmantel für eine trügerische Idylle sein können. Denn die Familie zieht nicht in den Wald, sie flüchtet. Eine Flucht, um sich selbst zu finden, eine Auszeit von der modernen Welt des 21. Jahrhunderts, in welcher die Menschen offenbar einen permanenten Kontrollverlust erfahren: Über das Eigentum am eigenen Leben, über die Freiheit, Entscheidungen zu treffen, ja selbst über die Freiheit des Geistes.

Dazu kommen mangelnde analoge Momente, unmittelbares, echtes Erleben sowie eine greifbare Form von Seelenschmerz. Das alles soll der Wald „therapieren“, dem sich Andrea und ihre Familie in einer winzigen Hütte von 16 m² förmlich einverleiben. Zwei Räume, die die Personen näher zu sich selbst und zueinander führen – in einer Mixtur aus Veränderung, Rebellion und dem Abschied von bisherigen Lebensträumen. Aber auch in der Erkenntnis, dass ein einfaches Leben nicht grundsätzlich einen Wandel nach sich zieht. Dass man in vielen Fällen noch immer von denselben Strukturen umgeben und Aussteigen nicht per se der Schlüssel zum Glück ist. Und dass Veränderung die einzige Konstante im Leben bildet.

Die Natur im Wandel: Auch ein Abbild für das menschliche Dasein. Screenshot von Andreas Instagram-Account @ andreahejlskov

Leben in Wald und Flur für mehr Achtsamkeit
Das alles drückt sich in einer vielfältigen Sprache aus, die zwischen Ich-Erzählung, Auszügen aus Andreas Blog, direkter Ansprache, szenischen Elementen und dem verbalen, angstvollen Bemühen der Autorin schwankt, um jeden Preis ihre Authentizität zu bewahren. Je mehr Eltern und Kinder jedoch zu sich selbst finden, desto ruhiger, lesbarer wird die Ausdrucksweise. So war unser erstes Jahr im Wald: Eine nicht endende Abfolge von alltäglichen Verrichtungen, verzwirnt mit einer nicht endenden Kette von abstrakten Gedanken, bilanziert die studierte Psychologin im ersten Drittel.

Die permanente Selbsttherapie der Mutter ist schmerzhaft und anstrengend, das Paarverhältnis ebenfalls, und das Glück selbst im Wald nur ein flüchtiger Geselle. Dazu kommen Dinge, die den Alltag grau erscheinen lassen, so grau wie einst das alte Leben, nur anders getüncht. Selbst oder sogar in der (vermeintlichen) Freiheit lauert das Paradoxon Desillusionierung an zahlreichen Ecken. Weil die Ablenkungen der Gesellschaft fehlen, werden alle Beteiligten noch stärker auf sich selbst zurückgeworfen in ihrem Versuch, das alte Leben wegzuwerfen. Und so manches Mal kommt beim Lesen der Gedanke hoch: Hätte man dafür in den Wald gehen müssen? Oder um es mit den Worten der Protagonisten zu sagen: Gibt es keine Möglichkeit, in der Natur zu leben und gleichzeitig Teil der Gesellschaft zu sein?

Human Rewilding: Andrea und ihr Mann versuchen, sich wieder mit grundlegenden menschlichen Emotionen zu verbinden © www.mairisch.de

Tatsächlich liegt, so eine Erkenntnis, das Glück auch bis zu einem gewissen Maße und Zeitpunkt im Konsum: Eins kann ich über das Leben ohne festes Einkommen sagen – es ist nicht so schwer, wie ich geglaubt hatte. Wir verhungerten nicht. Auf die Luxusgüter zu verzichten ist das, was schwerfällt: Milch, Kaffee, Schokolade, Tabak – und Weihnachtsgeschenke. Tatsächlich haben die vier Kinder unterschiedliche Bedürfnisse und Wünsche, die zu starken Konflikten und Auseinandersetzungen untereinander führen. Sich vom bisherigen Leben zu entprogrammieren, den bisherigen Lebensstandard zu senken, zu containern, zu hungern und stellenweise gar verzweifelt zu hausen, ist alles andere als rosarot. Wir hier draußen verdeutlicht das in brutaler Härte, zeigt die Schattenseiten einer „Außenwelt“ ohne Bürokratie, die einen genauso in den Sog zieht wie am Ende wieder erleichtert ausspuckt.

Das Leben im Wald versprüht eine hyggelige Atmosphäre. Screenshot von Andreas Instagram-Account @ andreahejlskov

Minimalismus als Abkehr von der Zivilisation
Ich kann nicht mit mir selbst leben. Ich habe die Büchse der Pandora aufgemacht und weiß nicht, wie ich sie wieder zubekommen soll, schreibt Andrea im letzten Drittel. Seitdem ist mehr als ein halbes Jahrzehnt vergangen. Obwohl das Buch am Ende unabgeschlossen wirkt, hat die Familie nach sechs Jahren in der Wildnis ihren Platz gefunden und ihren Traum verfeinert. Sie leben wieder näher an ihrer Heimat Dänemark, wo sie u.a. ihr Selbstversorger-Dasein leichter umsetzen können – ohne Bad, Kühlschrank oder andere moderne Geräte. Aber auch ohne Heerscharen von Besuchern, die am alten Standort vorbeikamen. Die älteren Kinder sind inzwischen ausgezogen. Ihr Fazit im Gespräch mit dem Verlag: (W)ir wollen einfach in Ruhe dieses Leben führen und darüber dann sprechen, wenn wir es wollen.

Alle Zitate – soweit nicht anders angegeben – nach Andrea Hejlskov: Wir hier draußen. Eine Familie zieht in den Wald. mairisch Verlag, Hamburg 2017, 296 Seiten (20,00 Euro als Hardcover)

Alle Abbildungen © www.mairisch.de.

Für das Rezensionsexemplar (Druck-PDF/ Buch) bedanken wir uns beim mairisch Verlag.

Auch dieses Mal geben wir unser gebundenes Rezensionsexemplar gerne an Euch weiter. Verratet uns doch, ob Ihr selbst einen Ausstieg (auf Zeit) plant oder von welchen alternativen Lebensmodellen Ihr träumt. Jeder Kommentar samt E-Mail-Adresse (auf dem Blog nicht öffentlich sichtbar!) oder unter dem entsprechenden Facebook-Beitrag wandert in den Lostopf. Teilnahmeschluss ist der 24. September 2017. Der Rechtsweg ist ausgeschlossen. Umtausch oder Barauszahlung des Gewinns sind nicht möglich. Teilnahmeberechtigt sind Personen ab 18 Jahren. Viel Glück!

10 Kommentare

  1. Hallo,
    wir sind gerade am Aussteigen, es gibt erstmal eine Zwischenstation auf dem CP-Platz und gleichzeitige Suche nach dem richtigen Platz oder auch eine größere Gemeinschaft.

    Liebe Grüße Sven

  2. Hanna Braun sagt

    Ich habe mir auf Reisen viele Modelle und Varianten angeschaut und von allen das Beste gesammelt, z.B. das Leben Off the Grid, in Öko-Dörfern, als Selbstversorger. Am liebsten würde ich an einem Ort leben, der viel Freiraum und Grün bietet, gleichzeitig aber auch über eine Gemeinschaft verfügt. Bis es so weit ist, muss ich allerdings erst mal mein Studium abschließen…

  3. Hab mein Gewerbe abgemeldet, arbeite teilzeit im Seniorenheim mit Hund. Lebe momentan auf 15qm (Minimaliamus), suche nach dem geeigneten Wohnmobil um mobil zu leben. step by step. Hab immer WG gemacht, in Gemeinschaft leben ist es immer wert sich (mit Streitkultur) auseinanderzusetzen und zusammenzuraufen. Heilmethoden interessieren mich immer schon. Von der Hand in den Mund leben kann ich mir gut vorstellen.

  4. Darf ich mein aktuelles Leben einen Ausstieg nennen?, frage ich mich. Ich habe meinen Job aufgegeben, das schon. Werde aber mitversorgt, von einem, der ein ganz „normales“ Leben lebt.
    Und ein Leben im Wald, in der Natur, als Selbstversorger – das Thema spricht mich immer wieder von Neuem an, aber davon träumen, nun ja, ich fürchte, dafür bin ich zu pragmatisch. Oder zu bequem. Oder beides.
    Denn ich hätte längst schon damit anfangen können, mit dem Leben in der Natur, in kleinem Umfang, ein Garten ist vorhanden, doch dieser Garten ist eher vernachlässigt. Weil ich wohl doch lieber nur von einem solchen Leben lese, als es tatsächlich auch umzusetzen.

  5. Ich folge der Sehnsucht meines Herzens nach einer tiefen Verbindung mit dem Leben. Dazu gehört, es erst einmal von allem zu befreien, was definitiv nicht dazu gehört. Das ist ein schwieriger, anstrengender Prozess und ich bin oft ungeduldig, weil es so leicht ist seine inneren Überzeugungen zu ändern, aber sie dann im Alltag umzusetzen sehr viel zäher ist als gedacht . Ich habe auf diese Weise gelernt und lerne immer noch, wie weit man mit kleinen stetigen Schritten kommt. Ich entrümpele und entrümpele und entrümpele……und verbanne Plastik aus meinem Leben und beginne vieles wieder selber herzustellen und wach und bewusst zu leben. Es ist wie bei einer Geburt: Wehe für Wehe kommt etwas Neues in mein Leben. Und wie bei einem Neugeborenen weiß man nicht was kommt…wie das Neue sein wird und wohin es einen führen wird. Aber in letzter Zeit habe ich immer mal wieder interessiert Berichte über tiny Houses gelesen….

  6. Thalke sagt

    Ich habe nicht vor, richtig auszusteigen, wünsche mir aber doch in Zukunft mich mehr selbst zu versorgen mit eigenem Gemüse usw. auch möchte ich den Konsum noch weiter einschränken. Geschichten über Leute, die dieses radikal umsetzen, finde ich immer sehr inspirierend

  7. Claudia sagt

    Einen „echten“ Ausstieg plane ich nicht, aber ich passe mein Leben und mein Konsumverhalten nach und nach meinen Werten an. Weniger dafür gut – könnte man das wohl nennen. Ich träume von einem nachhaltig gebautem Tiny House, dass darf dann auch gern am Waldesrand stehen. Bis dahin gehe ich viele kleine Schritte von minimalistischer bis plastikfreier Leben. Ich würde mich sehr über das Buch freuen und finde deinen Blog ganz wunderbar!

  8. Von einer anderen Art zu leben, träume ich schon. Auf Dauer ist es in der Großstadt einfach nicht auszuhalten, wenn man frische Luft, sauberes Wasser, Sternenhimmel, Ruhe und anderes braucht.
    Ich hab mir deshalb auf dem Land einen Bauwagen besorgt, den ich nach und nach ausbaue. Ich hoffe auch, eies Tages dort leben zu können, mit anderen eine Schule zu gründen, damit auch Familien leichter mitziehen. Aber sicher ist alles nicht so rosig, wie man es sich erstmal ausmalt. Das gemeinschaftliche Zusammenleben muss halt gelernt werden. In unserer auf Individualität konzentrierten Gesellschaft wird das ja den meisten nicht mit in die Wiege gelegt.

  9. Lieber Leserinnen und Leser,

    herzlichen Dank für Eure tollen Kommentare, den Einblick in alternative Lebensformen und in Eure Träume. Wir haben jeden einzelnen Beitrag mit großer Freude und echtem Interesse gelesen.

    Die Glücksfee bereitet gerade die Auslosung vor. Solltet Ihr dieses Mal nicht gewonnen haben, seid nicht traurig. Das nächste „Zuckerl“ zum Thema „Achtsamkeit“ steht schon in den Startlöchern für Euch.

    Viele Grüße
    M21 und der Herr M21er

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