Der stillste Ort der Welt. Er lag lange Zeit im US-Bundesstaat Minnesota, welcher im Norden an Kanada grenzt. Ein Land, das Assoziationen von Weite, von rauschenden Wäldern sowie von unberührter Wildnis hervorruft. Absolute Stille sucht der Mensch hier allerdings vergeblich. Zumindest, wenn wir die Abwesenheit von Tönen als Dezibel-Wert definieren.
Geräusche-Minimalismus: Dem Lärm die Tür weisen
Auch das Guinnesbuch der Rekorde weist den Weg zurück: in den Süden von Minneapolis zur sog. „Anechoic Test Chamber“. Der schalltote Raum befindet sich in den Orfield Laboratories – einer amerikanischen Firma mit einer reflexionsarmen Kammer. Sie absorbiert 99,99 Prozent aller Geräusche bei einem Minus von rund neun Dezibel auf der Lautstärke-Bilanz. Ein Extremwert, wie er in der Natur nicht vorkommt. Möglich macht dies die Spezialkonstruktion aus Glasfaser, Stahl und Beton. Schall kann dadurch weder entweichen noch eindringen. Auch bei Microsoft oder im reflektionsarmen Raum des Instituts für Wiener Klangstil (IWK) ist es längst sehr still geworden. So still, dass sich etwa die Ingenieure des Software- und Hardwareherstellers in einem akustischen Niemandsland bewegen, das seinesgleichen nur im Weltall findet. So still, dass der Wert der Orfield Labs im Microsoft Building 87 in Redmond um mehr als das doppelte übertroffen wurde. Und der Eintrag im Guinnesbuch 2016 überarbeitet. Höchstleistungen und Extremwerte treten nicht zwangsweise lautstark auf.
Um die Welt zum Schweigen zu bringen, muss man sich also anstrengen, muss abdichten, abfedern, dämmen. Nur um dann festzustellen, dass die Stille ein Janusgesicht hat. Auf Menschen wirken schalltote Räume verstörend und angsteinflößend bis hin zu Halluzinationen. Da die übliche Geräuschkulisse und mit ihr vertraute Töne zur Orientierung fehlen, treten die eigene Atmung oder der Herzschlag plötzlich lautstark hervor. Ein verwirrender Zustand, in dem das Individuum selbst zum Geräusch und gleichzeitig vollkommen auf sich selbst zurückgeworfen wird. Ohne Ablenkung, Betäubung oder Übertünchung von außen. Für viele von uns ist das kaum auszuhalten, wie der Film Zeit für Stille zeigt, der ab 30. November bundesweit in ausgewählten Kinos läuft.
Denn im Alltag sind wir von einer wahren Kakofonie aus Geräuschen umgeben; das stellen die zahlreichen Protagonisten aus acht Ländern (USA, Japan, Großbritannien, Deutschland, Belgien, China, Taiwan, Indien) wiederholt fest. Geräusche, die wir uns selbst geschaffen haben, gehen Hand in Hand mit jenen, um die wir nicht gebeten haben. Ja, sie bilden gar einen vertrackten Kreislauf aus Ursache und Wirkung, aus Henne und Ei, ein endloser Rattenschwanz, der uns beständig mit einem Klatschen ins Gesicht schlägt wie der Lärm aus der Einflugschneise oder der Laubbläser des Nachbarn. Geräusche, die weit über einem normalen Gespräch von etwa 60 Dezibel liegen und uns auf lange Sicht krank machen, die zu Bluthochdruck und anderen Zivilisationskrankheiten führen – gleich nach der Luftverschmutzung als dem schädlichem Umwelteinfluss Nummer eins. Allesamt negative Folgen, die wissenschaftlich längst als erwiesen gelten.
Das Paradoxe ist also, dass wir uns eine künstliche Lärmkulisse erschaffen haben, obwohl das unserer Natur widerspricht. Denn eigentlich brauchen wir Stille zum Überleben, um hin- und reinzuhören, um selbst nicht gehört zu werden. Doch je weiter wir uns von ihr entfernen, desto mehr verlieren wir unser Wesen. Lärm und Geräusche sind – das wird in rund 80 Minuten unmissverständlich klar – probate Mittel zur Betäubung. Ähnlich wie Konsum. Zur Selbstabschottung gegen das Unmittelbare, gegen das Leben und unser eigenes Dasein. Das wir nicht immer in Gänze ertragen können und wollen. Denn in der Stille sind wir im übertragenen Sinne nackt; schutzlos. Ohne Geräusche sind wir auf uns selbst zurückgeworfen. Ein ungewöhnlicher Zustand, in dem wir unser Dasein, die Umwelt sowie die Realität so wahrnehmen, wie sie sind. Und das müssen wir aushalten können.
Digitales Dauergeplapper im digitalen Zeitalter
Im digitalen Zeitalter schließlich kommt digitaler Lärm dazu – ein neuzeitliches Phänomen, das uns immer weiter von uns wegführt. Wir betäuben uns visuell und akustisch bis zur Schmerz- bzw. Belastungsgrenze. Doch was soll, nein, was kann eigentlich danach noch kommen? Darauf liefert Zeit der Stille keine Antworten. Wohl aber viele Definitionen von Stille, die sich zugleich in einer Vielzahl von beruhigenden Bildern ausdrückt. Bilder, die zeigen, dass selbst die Stille ein Geräusch ist. Aufnahmen, die belegen, dass es keine Stille gibt, solange wir in der Welt sind. Weil wir uns in der Abwesenheit von Geräuschen selbst als Lebewesen wahrnehmen. Dennoch, und das mag im ersten Moment paradox klingen, ist Stille für jeden verfügbar. Und es ist nie zu spät, danach zu suchen.
Wo diese Suche beginnt und wo sie enden kann, zeigt Regisseur Patrick Shen in seiner Doku äußerst eindringlich. Fernöstliche Philosophien, Meditation, Schweigekloster, ein einfacher Waldspaziergang: Stille ist überall da, wo wir bereit sind, ihr den notwendigen Raum zu geben. „Dass Waldluft unser Immunsystem noch besser in Balance bringt, als wir bisher dachten, und uns sogar vor Herzinfarkt schützt, hat der japanische Arzt und Waldmediziner Prof. Qing Li von der Nippon Medical School in Tokio in jahrelangen Feldstudien beweisen können“, schreibt Diplomingenieur und Biologe Clemens Arvay in diesem Zusammenhang. Ein weiteres Thema, mit dem sich der Kinofilm auseinandersetzt ebenso wie mit seinen extremen Gegenbeispielen. Denn wenn in Mumbai die dreimonatige Festzeit beginnt, braucht es keine hektischen Kamerabewegungen oder schnellen Schnitte mehr. Ein kurzer Zoom auf das Messgerät einer Einheimischen mit seinen 100 Dezibel treibt den Puls beim bloßen Zusehen in die Höhe und lässt ihn spürbar fallen, sobald die filmische Komposition – wie es in der Presseankündigung heißt – wieder einem am menschlichen Stoffwechsel orientierten Rhythmus folgt.
Wenn alle schweigen und keiner spricht, dominiert keiner, heißt es sinngemäß in einer Einstellung, die Lautes leise macht. Immer wieder drückt Zeit für Stille auf die Stopptaste und macht durch den akustischen und optischen Szenenwechsel von laut – leise bzw. leise – laut den Irrsinn unserer internationalen Geräuschkulisse deutlich. Stille ist ein Gut, das wir niemals finden werden. Aber dennoch hören können.
In der Ruhe liegt also viel Kraft. Und zum ersten Mal habe ich diese nach einem Besuch im Lichtspielhaus in die reale Welt hinaus getragen.
Alle Zitate stammen – soweit nicht anders angegeben – aus dem Film Zeit für Stille.
Alle Abbildungen mit freundlicher Genehmigung von kinofreund.
Zeit für Stille
Regie: Patrick Shen
Land: USA
Sprache: Englisch mit deutschen Untertiteln
Verleih: mindjazz pictures
Kinostart: 30.11.2017
Länge: 81 Minuten
Für die Pressekarten zur Kinovorführung in München bedanken wir uns bei der Kölner Filmpresse.