Ich liebe Erfahrungsberichte zum Thema „Minimalismus“. Und versuche, ihnen in verschiedenster Form auf diesem Blog Raum zu geben – egal, ob als Gastbeitrag, Interview, Film- oder Buchbesprechung. Das befreiende Gefühl, mit weniger zu leben, tritt nämlich oftmals erst im Vergleich mit anderen Menschen bzw. Gleichgesinnten hervor. Einer von ihnen ist Fumio Sasaki, Mitte 30, Lektor und Blogger in Tokio. Doch Sasaki war nicht immer Minimalist, wie er selber sagt.
Früher kaufte ich jede Menge Sachen in dem Glauben, all diese Dinge würden mein Selbstwertgefühl steigern und mich glücklicher machen. […] Gleichzeitig maß ich mich ständig mit anderen Menschen, die mehr oder Besseres besaßen, was mich nur traurig machte.
So traurig, dass der Japaner ganze Seiten mit seinem alten Ich füllen kann, einer unsicheren Persönlichkeit voller Selbstzweifel und innerer Zerrissenheit sowie dem trügerischen Gefühl, dass Geld und Besitz allein der Schlüssel zum Glück seien. Als sich der junge Mann von diesen Glaubenssätzen ebenso verabschiedet wie von einem Großteil seiner Dinge, versteht er, dass es beim Loslassen oft um mehr als um das bloße Entrümpeln geht.
Meiner Ansicht nach ist Abschiednehmen eine Übung darin, über wahres Glück nachzudenken.
Gerne würde ich an dieser Stelle ergänzen, dass vor allem die unfreiwillige Form des Abschiedsnehmens wie der Verlust einer geliebten Person die Frage nach Zufriedenheit und Sinn verstärkt aufwirft – in Summe wesentliche Treiber unseres Glücks. Doch Sasaki legt hier einen anderen, nüchternen Blick an den Tag. Im Fokus die Erkenntnis: Ich habe weggeworfen, also bin ich. Nämlich glücklich. Während erstens die notwendigen Dinge auf ein Minimum reduziert und zweitens alle Exzesse abgestellt worden sind, um sich auf die Dinge konzentrieren zu können, die wirklich zählen. Soweit seine Definition, nach der Männer und Frauen als Minimalisten gelten.
Minimalismus als Prolog einer persönlichen Geschichte
In fünf großen Kapiteln gewährt der Autor tiefe (visuelle) Einblicke in sein Konsumverhalten, sein Verhältnis zu den Dingen in seinem Besitz und zu den Dingen auf seiner Wunschliste, haptisch und digital. Ein gutes Haar bleibt bei dieser Selbstanalyse nicht übrig, was für Leserinnen und Leser zahlreiche Identifikationsmöglichkeiten schafft – etwa, was die verschiedenen Gründe und Auslöser für ein einfacheres Leben betrifft. Ob Minimalismus das Allheilmittel gegen Kontrollverlust und für ein gesundes inneres Gleichgewicht ist, sei in diesem Zusammenhang dahingestellt. Eine grundlegende Radikalität gegen sich selbst meint man beim Protagonisten jedenfalls herauszulesen, der offen auf den Spuren von Marie Kondo und Hideko Yamashita wandelt. Magic-Cleaning– und Dan-Sha-Ri-Leser wissen mehr. Allen Methoden bzw. Publikationen ist wohl gemein, dass sie das unstete Verhältnis zu unseren Besitztümern auf den Prüfstand stellen. Denn so wie sich die Ausprägung und Ausgestaltung des Minimalismus im Leben ändern kann, so wandeln sich Gemütszustände:
Wir gewöhnen uns irgendwann an jeden neuen, noch so erfüllten Zustand. Irgendwann beginnen wir, unsere Habseligkeiten als selbstverständlich hinzunehmen.
Konkret bedeutet das: Unser Glücksgefühl verflüchtigt sich, und mit jedem neuen Eigentum versuchen wir dieses wieder zu erzeugen und festzuhalten. Dies ist die Logik des Unglücklichseins, sagt Sasaki. Ein Teufelskreis, dem zu entrinnen uns 55 Tipps für einen minimalistischen Lebensstil helfen sollen. Obwohl nicht alle Ratschläge vollkommen neu sind und teilweise auf bewährte Methoden rekurrieren, schafft es die Auflistung, ein psychologisches und damit tiefergehendes Verständnis für die Herausforderungen und Chancen des Loslassens zu entwickeln, und bietet damit einen exzellenten Minimierungsansporn. Denn: Wegwerfen muss man lernen. Hier und heute. Genau jetzt. Weil das Leben nur in diesem Moment stattfindet und wir nie die Zeit zum Loslassen haben werden, wenn wir nicht sofort beginnen: Altes loslassen, Neues umarmen und wichtigen Dingen ihren verdienten Platz einräumen.
Wer sich an Erinnerungsstücke klammert, hängt einem vergangenen Bild seiner selbst nach. Wenn Sie also nur das geringste Interesse haben, sich zu verändern und zu wachsen, dann raffen Sie sich auf und lassen Sie los.
Denke nicht, entrümple!
Ob Reduzieren ebenfalls bedeutet, nur ein einziges Handtuch für die Pflege von Küche und Körper zu besitzen, bleibt zum Glück jedermann selbst überlassen. Für Sasaki allerdings das perfekte Maß, wobei Qualität statt Quantität bei der Anschaffung von Gebrauchsgegenständen gleichermaßen zur Sprache kommt. Wettkampf und Bußrituale sind für ihn dagegen keine probaten Werbetreiber für mehr Besitzlosigkeit. Haken drunter!
Wer sich nun fragt, was nach dem Abschied vom Krempel kommt, für den bietet Fumio Sasaki gleichermaßen (s)eine Geschichte an, jedoch nicht in dem weiterführenden Maße, wie es The Minimalists mit „Der neue Leicht-Sinn“ vorgelegt haben. Sasakis Buch ist reichhaltiger Informations-Minimalismus, der das Why und How auf dem Weg zum Minimalismus in den Vordergrund stellt und schonungslos unsere Ängste zum Thema entlarvt, bspw. die Befürchtung, Teile unserer Identität mit dem Weggeben zu verlieren. Für mich neben Yamashitas Erfolgsmethode Dan-Sha-Ri eines der inspirierendsten Bücher in diesem Sommer, das ich noch eine Weile horten, verleihen und wieder lesen werde; weil ein bisschen Besitz eben doch glücklich macht.
Alle Zitate – soweit nicht anders angegeben – nach Fumio Sasaki: Das kann doch weg! Das befreiende Gefühl, mit weniger zu leben. 55 Tipps für einen minimalistischen Alltag. München 2018 (18,00 Euro)
Für das Rezensionsexemplar bedanken wir uns beim Integral Verlag.