Als ich aufgewachsen bin, war Ehrenamt in meinem Elternhaus kein sperriger Begriff, sondern etwas, das gelebt wurde. Mein Vater engagiert sich seit Jahrzehnten beim örtlichen Gartenbauverein, während meine Mutter zusammen mit einer Freundin im benachbarten Kindergarten eine Bücherei gegründet hat. Zwar bin ich selbst schon seit Ewigkeiten Mitglied in selbigem Gartenbauverein und in den Semesterferien habe ich immer gern in der Kindergartenbücherei ausgeholfen, doch seit ich von Zuhause ausgezogen bin, war das Ehrenamt nichts mehr, über das ich mir Gedanken gemacht habe.
Bis zum Winter 2016 – da fragte mich mein Gitarrenlehrer, ob ich Lust hätte, bei einem Projekt mitzuwirken. Er sei durch Zufall dazugekommen und da ich so gern sänge, sei es vielleicht genau das Richtige für mich. Eine Handvoll Musiker habe sich zusammengetan und trete mit Volksliedern und Evergreens in Altenheimen auf. Das klang interessant, zudem passte das Timing gut: Bis kurz zuvor hatte ich in einem Gospelchor gesungen, doch als sich die Probezeiten änderten, konnte ich nicht mehr teilnehmen. Mein Gitarrenlehrer nannte mir einen Kontakt und wenig später, im Januar 2017, trat ich das erste Mal mit „Hr. August & Kollegen“ auf.
In den vergangenen 20 Jahren habe ich mit verschiedenen Chören auf unterschiedlich großen Bühnen gestanden – und doch war dieser Auftritt eine ganz neue Erfahrung. Denn während ein Chor unterhalten, begeistern oder brillieren will, geht es bei unserem Gesangsprojekt darum, Inseln zu schaffen, zu motivieren, eine Pause vom Alltag zu geben. Und auch das Publikum unterscheidet sich von den Zuhörern, vor denen ich bis dahin aufgetreten war: In den Altenheimen singen wir ausschließlich für Demenzkranke. Wobei das noch nicht ganz stimmt: Wir singen weniger für die Heimbewohner, sondern vor allem mit ihnen.
Die magische Kraft der Musik
Dieser erste Auftritt machte mir zwei Dinge bewusst: Musik hat einen besonderen Effekt auf Demente, sie können sich oftmals an Lieder aus ihrer Vergangenheit erinnern und erlangen dadurch ein Stück Selbstvertrauen, auch wenn die Krankheit bereits weit vorangeschritten ist. Davon hatte ich zwar schon gehört, doch diese Wirkung selbst zu sehen, war äußerst ergreifend. Zudem dämmerte mir, wie wenig ich über die Lebenswirklichkeit in Altenheimen wusste. Keiner meiner Angehörigen lebt derzeit in einem Seniorenheim, sodass ich mich bis dahin nicht mit diesen Einrichtungen beschäftigen musste. Und deshalb überraschte es mich sehr, wie viel Freude wir zu den Bewohnern bringen konnten, indem wir mit ihnen sangen.
Nach meinem ersten Auftritt mit „Hr. August & Kollegen“ war ich gleichermaßen beschwingt als auch erschüttert. Ich hatte von Demenzkranken gehört und gelesen, aber zu sehen, was die Krankheit mit dem Menschen macht, ließ mich nicht kalt. Gleichzeitig faszinierte mich, welche Wirkung unsere Lieder auf das Publikum hatte. Manche Bewohner hatten uns anfangs höflich angelächelt, andere wirkten in sich gekehrt oder gar lethargisch. Immer mehr Blicke wandten sich uns zu, sobald die ersten Töne von Geige, Akkordeon und Gitarre erklangen. Je länger wir musizierten und gemeinsam sangen, desto lebhafter wurde das Publikum. Am Ende forderten Heimbewohner und Pflegekräfte zusammen lautstark eine Zugabe.
Ein weiterer Unterschied zum klassischen Chorkonzert: Dort war ich zwar nach dem Auftritt stets geschafft und glücklich, aber niemals so erfüllt wie am Ende dieses ersten Nachmittags mit Hr. August. Dieses Gefühl der Erfüllung ist einer der Gründe, weshalb ich mit solcher Leidenschaft an diesem Projekt mitwirke. Denn obwohl wir Musiker diejenigen sind, die beim Auftritt anderen helfen und etwas geben möchten, nehmen wir doch jedes Mal so viel mit. Die Freude und Dankbarkeit, die uns von allen Seiten entgegenschlägt, ist wie eine warme Dusche für Seele und Herz. Jeder Auftritt entlässt mich mit dem Gefühl, nicht nur etwas Gutes, sondern auch das Richtige zu tun.
Wer ist eigentlich dieser Herr August?
Entstanden ist die Gruppe vor ein paar Jahren, als einige Studenten beschlossen, in Altenheimen zu musizieren. Sie waren alle in verschiedenen Städten verstreut und je nachdem, wo sie sich trafen, fragen sie im örtlichen Heim an, ob sie dort mit den Bewohnern singen dürften. In einem der Altenheime fanden sie die Inspiration für ihren eigenen Gruppennamen: Dort trat eine andere Gesangstruppe namens „Hr. Kramer & Kollegen“ auf. Doch keiner der Studenten wollte seinen eigenen Nachnamen einfügen, bis einer von ihnen eine Idee hatte: Er las gerade den Roman „Der alte König in seinem Exil“ von Arno Geiger. Der Autor beschreibt darin, wie sein Vater August an Alzheimer erkrankt und die beiden im Verlauf der Krankheit noch einmal neu Freundschaft schließen. Kurzerhand liehen sich die Studenten den Vornamen des Protagonisten: Hr. August & Kollegen war geboren. Leider schlief das Projekt einige Zeit später ein, doch im Winter 2016 wurde es schließlich neu belebt.
Seither sind wir eine stetig wachsende Gruppe von derzeit rund 20 Personen aller Altersgruppen, die gern singen und musizieren. Nicht alle sind bei jedem Auftritt dabei, denn manche halten das Projekt im Hintergrund am Laufen: Sie kümmern sich um Organisatorisches, stehen in Kontakt mit den Ansprechpartnern der Heime und erstellen die unersetzlichen Doodle-Listen, ohne die wir uns sonst niemals auf einen Termin einigen könnten. Meistens sind wir etwa acht Leute, wenn wir zweimal pro Monat in zwei Münchner Pflegeheimen auftreten. Neben den Sängern ist auch immer jemand dabei, der ein Leitinstrument wie Gitarre oder Akkordeon spielt, auch eine oder zwei Geigen sind regelmäßig mit von der Partie.
Bevor es losgeht, verteilen wir Notenmappen, Schellenkränze und Egg-Shaker im Publikum, denn wer einigermaßen fit ist, macht begeistert mit. Unser Repertoire umfasst Volkslieder, Schlager und Evergreens – Melodien, die Bewohnern aus ihrer Jugend kennen. Gemeinsam singen wir „Das Wandern ist des Müllers Lust“, „Die Gedanken sind frei“ oder „Rote Lippen soll man küssen“. Mein persönlicher Favorit: „Mein kleiner grüner Kaktus“, denn da singen alle immer voller Begeisterung mit und amüsieren sich über den kleinen Kaktus aus Filz, den ich extra für diese Nummer besorgt habe – schließlich haben wir keine Kosten und Mühen gescheut, um das besungene Original vorzeigen zu können. 😉
„Wann kommen Sie denn wieder zu uns?“
Vor jedem Auftritt bin ich gespannt, was uns erwarten wird. Das Publikum ist immer recht gemischt: Manche sitzen mit abwesender Miene auf ihren Stühlen, andere beginnen direkt ein Gespräch mit uns, jemand winkt uns begeistert zu. Einige werden von einem Angehörigen begleitet, ein paar sitzen im Rollstuhl, manchmal steht sogar ein Bett im Raum. Während wir singen, dirigiert eine Dame bei jedem Lied mit, während sich ihre Sitznachbarin über die ausladenden Gesten beschwert. Es ist kein leises Publikum, sondern ein aktives: Als wir einmal bei einem Lied eine Strophe vergessen, werden wir direkt darauf hingewiesen. Und neulich haben uns alle zusammen gezeigt, wie das Lied „Mein Hut, der hat drei Ecken“ zu einer echten Herausforderung werden kann – indem man nacheinander einfach fast alle Wörter nicht mehr singt, sondern durch die entsprechenden Gesten ersetzt. Das Gelächter war groß, wenn wieder einer der „Augusten“ lauthals das Wort sang, das wir neu ersetzt hatten. Nach vierzig Minuten enden wir mit einer Zugabe, die sich die Bewohner aussuchen dürfen, und werden im Anschluss jedes Mal gefragt, wann wir denn wiederkommen. Hinterher seien die Bewohner viel ruhiger, heiter und beschwingt, haben uns die Pflegekräfte beider Einrichtungen berichtet. Man könne den Effekt jedes Mal deutlich spüren.
Einen besonders emotionalen Moment habe ich bei einem Auftritt im vergangenen Advent erlebt: Wir hatten uns Repertoire angepasst und sangen an diesem Samstag nur Weihnachtslieder. „Alle Jahre wieder“, „Leise rieselt der Schnee“, aber auch „Rudolph, the Red-Nosed Reindeer“ schallte durch den weihnachtlich geschmückten Raum, die Stimmung war feierlich. Zum Abschluss sangen wir natürlich „Stille Nacht, heilige Nacht“ – währenddessen kullerte bei so manchem eine Träne über die Wange und Taschentücher wurden gezückt. Wir hatten uns für dieses Lied alle die Hände gereicht, neben mir saß eine Frau im Rollstuhl, die zwar nicht mitsang, mich aber unentwegt anlächelte und meine Hand fest drückte. Doch als wir zuletzt noch einmal die erste Strophe wiederholten, sang sie aus voller Kehle mit, auch wenn ihr manche Worte Schwierigkeiten bereiteten. Da war ich diejenige, die zum Taschentuch greifen musste.
Über die Autorin
Stefanie Biberger lebt in München und arbeitet als Redakteurin in einer PR-Agentur. Musik und Gesang sind seit jeher ihr Ausgleich zum stressigen Arbeitsalltag – entweder indem sie zu Hause an den Gitarrenseiten zupft oder aber „Hr. August & Kollegen“ mit ihrer Sopranstimme unterstützt. Für ihr Engagement um das karitative Gesangsprojekt wurde sie im Frühjahr mit dem Burda Mitarbeiter-Ehrenamtspreis 2018 ausgezeichnet.
Wer nun neugierig geworden ist und auch aktiv werden möchte, darf sich gern bei uns melden: AugustundKollegen@gmx.de.
Wir freuen uns über neue Mitstreiter!
Alle Abbildungen © Sabrina Raschpichler (www.sabrinaverte.com)
More Moments.
Du willst anderen Menschen zeigen, was Dein Leben erfüllt, was Dich wirklich glücklich macht und bereichert? Du „sammelst“ lieber schöne Momente als Dinge und verbringst Zeit mit etwas Wertvollerem als mit „compulsory consumption“? Dann melde Dich bei uns und erzähle Deine (Minimalismus-)Geschichte. Wir freuen uns auf Dich.
#MoreMoments. Was wirklich wertvoll ist im Leben. Die aktuelle Blogserie auf Minimalismus21. Alle (vorherigen) Teile der Serie findet ihr unter dem Suchbegriff #MoreMoments rechts oben (Lupe) und natürlich bei Twitter. Zu Teil 1 und Teil 2 sowie zu Teil 3, Teil 4, Teil 5 und Teil 6, Teil 7 sowie Teil 8, Teil 9, Teil 10 und Teil 11 und Teil 12.
Oh, was für eine schöne Aktion! Ich singe auch so gern, aber derzeit hab ich keinen Chor- die Probenzeiten passen nicht, oder die Musikrichtung oder so. Und ich bin auch nicht wirklich ambitioniert – ich will nicht irgendwelche komplizierten Koloraturen erlernen oder die Carmina Burana einstudieren, ich mag einfach regelmässig singen. Sehr gern Evergreens und Volkslieder! Ich werde direkt mal beim lokalen Altersheim nachfragen, ob es vielleicht so eine Aktion gibt. If not, möchte ich so einen Chor gründen. Ich muss mir nur noch ein paar Instrumentalisten suchen – ich spiele zwar Querflöte, aber gleichzeitig dazu singen ist schwierig. Gitarre oder gar Klavier wären toll. Vielen, vielen Dank für die Inspiration!