Ich sehe in Deinen Augen, dass eine neue Zeitrechnung begonnen hat. Die Art, wie Du mich anblickst, die Art, wie Du den Hörer hältst, macht mir unmissverständlich klar: Nach diesem Telefonat wird nichts mehr wie vorher sein. Denn manchmal ist die Endlichkeit nur einen Anruf weit entfernt. Als Du mir sagtest, man habe sie bewusstlos auf der Straße gefunden, war ihr Buch des Lebens bereits fertig geschrieben. Error, Festplatte gelöscht, rien ne va plus.
Loslassen kostet weniger Kraft als Festhalten. Und ist dennoch schwerer
Im Krankenhaus stehen wir an Deinem Bett. Und Vater fleht: „Wach bitte wieder auf!“ Er zieht Mutter M21 Socken an, damit die kalten Füße warm werden, und ignoriert dabei, dass man ihre Körpertemperatur bewusst herabgesetzt hat. Unser Flehen, unsere Tränen, unsere Verzweiflung erreichen dich zu diesem Zeitpunkt längst nicht mehr. Die Ärzte raten zu einer Entscheidung. Loslassen, freigeben, wo immer es dich hinzieht.
Die Krankenschwester sagt, man würde das Fenster öffnen, wenn es soweit sei. Damit die Seele ihre letzte Reise antreten kann. Ich halte deine Hand, als man die Scheiben schon längst wieder geschlossen hat. Ich habe in diesem Moment nicht das Gefühl, dass wir alle Gespräche geführt haben, dass alles ausgesprochen wurde, was Wichtig und von Bedeutung gewesen ist. Du quittierst meine Worte in der Stille des Zimmers mit einem unerwarteten Seufzer, der sich medizinisch bestimmt erklären lässt. Ein letztes Aufbäumen, eine letzte Zustimmung, ein Rest von Atem, ein letzter Gruß? Das Gehirn ist ein parteiischer Zeuge und ich will glauben, dass es deine Art ist, mir Lebewohl zu sagen.
Memento mori
Jetzt soll ich nach vorne blicken, heißt es. Wer Minimalismus lebt, lebt wider das Festhalten. Doch offenbar habe ich diese Disziplin zu wenig trainiert, habe zu wenig geübt. Die Jahre davor waren die Generalprobe auf der Bühne, die Leben heißt. Die Uraufführung ist der Ernstfall. Die Kritiker sagen, das Stück ist durchgefallen. Denn bislang hat sich die Endlichkeit nur in Parallelen zu meinem Leben bewegt. Tot sind immer die anderen.
In einer amerikanischen TV-Serie heißt es, wir halten an unseren Erinnerungen fest. Weil sie das einzige sind, was wir noch haben. Und Bosse singt: „Ich warte auf Dich. […] Manchmal hoffe ich so, dass die Klingel geht, Du mit Koffern an der Treppe stehst. So als wärst Du nur verreist.“ Und Vater sagt: „Ich kann ihre Sachen nicht ausmisten. Es fühlt sich an, als würde ich die Mama wegwerfen.“ Die Dinge haben die Herrschaft übernommen.
Nun sitze ich hier und reiße Deine Träume und Interessen aus alten Zeitschriften, in der Deine Schrift wenige Wochen zuvor das Kreuzworträtsel gelöst hat. Alle unbelebten Dinge sind belebt. Ich suche dich in allen Räumen, in einem Haus, das Heimat und Vergangenheit ist. Stecke heimlich meine Nase in eine Mütze von dir. Wenn es keiner sieht, atme ich deinen Geruch ein, verberge meine Tränen in 100 Prozent Wolle.
Zu entscheiden, was man mit dem Besitz eines Toten macht, habe für die Hinterbliebenen noch mal einen extra bitteren Beigeschmack […]. Viele Dinge würden plötzlich kostbar erscheinen, weil sie begrenzt sind: Der Mensch wird keinen neuen Brief mehr schreiben, für kein weiteres Foto mehr lächeln. Einem selbst würde es leichter fallen als den Kindern, Erinnerungsstücke wegzuwerfen. Als sie die Sachen ihrer Mutter aussortierte, war ihr plötzlich der alte Vorhang wichtig, der früher an der Terrassentür ihrer Mutter angebracht war.
Quelle: Zeit.de
Deinen Schlafanzug fülle ich jetzt aus. Doch niemals komplett. Ich muss die Hose alleine tragen, das Oberteil auch. In Kombination habe ich das Gefühl, dich mir komplett überzustreifen. Am Ende hat das eigene Leben in wenige Quadratzentimeter gepasst. Mein Minimalismus hat dort noch keinen Platz.
Das Leben lässt sich nicht in Konzepte stecken (und Minimalismus ist eins davon). Der Tod auch nicht. Ist das nicht wunderschön, so frei? Und vielleicht sind Leben und Tod auch gar nicht wirklich verschieden – was freilich nicht wissbar ist, wie alles, bei näherer Betrachtung. Also ja, vielleicht ist sie auch noch in den Dingen, weil nichts wirklich getrennt von etwas anderem ist, weil alles dieses eine (Nicht-)Ding namens Leben/Tod/Gott/!?! ist?
Ich wünsche Dir (D)einen guten Weg des Abschiednehmens und so viel Loslassen, Festhalten und Erinnern, wie es eben braucht.
Alles Liebe!
Liebe Dorothea,
vielen Dank für Deine warmen Worte und die klugen Überlegungen.
Herzliche Grüße
M21
Ganz toll geschrieben.
Habe anschließend sehr viel bittere Tränen vergossen.
Diese Endlichkeit ist nur noch grausam und mir geht es sehr, sehr schlecht, fühle mich total schlapp und ausgelaugt.
Das freut mich!
Was ich feststelle: Jeder trauert auf seine Weise, in seinem Tempo. Alles darf, nichts muss.
Ich wünsche Dir viel Kraft. Und das Zehn-Meter-Brett nicht vergessen.
D A N K E !!!
Schade, das man erst nach dem Tod eines geliebten Menschen erkennt, was man noch alles hätte fragen, zusammen erleben und sagen können/müssen. Ich denke, ich werde meinen Kindern (35 und 36) versuchen, Dinge zu erzählen, aus meinem Leben, aus dem Leben ihrer Großeltern, ihnen sagen und zeigen das ich sie liebe, Gutes tun, bevor es zu spät ist. Lieben so lange es möglich ist!
Aber fehlerfrei ist niemand, wir sind halt Menschen!
Liebe Waltraut,
ja, das stimmt. Doch manchmal überholt einen leider die Zeit, überholt einen der Lauf der Dinge.
Wo – zumindest statistisch gesehen – noch so viel Zukunft vor einem Menschen lag, hat das Schicksal auf einmal andere Pläne für das Lebensende geschmiedet. Ohne Vorwarnung, ohne Vorzeichen.
Deswegen ist es toll, wenn Du Deine Kinder so liebevoll in Dein Leben und Deine (Familien-)Geschichte miteinbeziehst. Denn die einzige Zeit ist jetzt.
Euch alles Liebe!
Der Tod ist nicht das Ende,sondern ein neuer Anfang.Und wir werden uns alle wiedersehen.
Daran will ich fest glauben, liebe Jenny!
Das wäre wunderbar, ich versuche immer wieder daran zu glauben…….schön, das Du Dir so sicher bist! Alles Liebe und weiterhin so viel Vertrauen!
In jeder Zeile konnte ich euren Schmerz fühlen, den der Verlust dieses geliebten Menschen mit sich bringt. Den Text gelesen, brauchte ich erst mal ein wenig Zeit.
Manchmal hilft es, den Prozess des Loslassens ein wenig abzufedern, den Schmerz erträglicher zu machen durch einige, besondere Dinge, die an diesen Menschen erinnern. Minimalismus ist für mich nicht nur wenig Dinge, sondern auch, im Zeitalter der Überfülle, den einzelnen Dingen ihre Bedeutung und ihren Wert zurück zu geben. Und wenn Dinge helfen, ein wenig den Schmerz zu lindern, dann sind sie mehr als wertvoll.
Liebe Gabi,
ja, das denke ich auch.
Wir sagen ja immer: Weniger, aber wertiger. Und unser Claim lautet „Mit Weniger zum Mehr“. Da stecken genaue Deine Worte dahinter :-).
Herzlichst
M21