Neueste Artikel

Film-Tipp: Die stille Revolution

Bodo Janssen ist ein klassischer Macher-Typ. Ein Mann der starken Worte, einer, der die Regeln des Marktes kennt und mit ihm Zahlen, Daten und Fakten. 2005 übernimmt er die Führung der Hotelkette Upstalsboom, ein Familienunternehmen mit mehreren Häusern an der Nord- und Ostsee. Nur fünf Jahre später die schockierende Erkenntnis: Die Angestellten lassen kein gutes Haar an ihrem Chef. Hass und Unfrieden haben sich flächendeckend in der Company ausgebreitet. Eine Mitarbeiterumfrage bringt zutage, was Janssen – der klassisches Management bis dato als „heilige Kuh“ verehrt – wohl selbst nicht für möglich gehalten hätte: „Die Umfrage war ein Schock. Auf einmal war ich kein allwissender Top-Manager mehr, sondern ein Flop-Manager“, bilanziert der studierte BWLer in einem Interview mit Spiegel Online.

Upstalsboom-Geschäftsführer Bodo Janssen verändert nach einer vernichtenden Mitarbeiterbefragung sein Unternehmen

So wie Janssen dürfte es vielen seiner Kolleginnen und Kollegen gehen. Denn 97 Prozent der Führungskräfte finden sich toll, wie das Ergebnis einer Gallup Studie aus dem Jahr 2017 zeigt. Dass Praxis bzw. Realität oft ein ganz anderes Resultat aufweisen, musste der heute 44-Jährige seinerzeit hautnah erfahren. Aber auch, dass Probleme Chance und Risiko zugleich sein können. Der Unternehmer nimmt eine radikale Kurskorrektur vor, eine „Stille Revolution“, die im Dokumentarfilm von Kristian Gründling seinen symbolhaften Ausdruck im wiederkehrenden Bild des Segelbootes findet. Die Doku begleitet Upstalsboom und seine Mitarbeiter ab 2010 auf ihrem Change-Prozess, der Führungskräfte zu Funkensprühern und Angestellte zu Angestellten mit eigenem Sinn werden lässt. Das Ergebnis: Viele Dinge brauchen viel Zeit, um zu reifen.

Zahlreiche spannende Interviewpartner fernab der Hotelkette beleuchten die Geschichte unserer Arbeitskultur, die etwa im Maschinenzeitalter einen autoritären Führungsstil mit entsprechenden „Kommandoeinheiten“ erforderte, wo das Private am Werktor „abgegeben wurde“. Der Angestellte wurde morgens eingestellt und abends abgestellt. Und sollte dazwischen nach Möglichkeit nichts anstellen. Was beim Zuschauer mitunter zu einem Schmunzeln führt, brachte Generationen von Frauen und Männern wohl weniger zum Lachen.

Der Mensch als Mittel zum Zweck, gefangen in der „Götterdämmerung des Materialismus“ (dm-Chef Götz Werner) mit einem Beschäftigungsverhältnis von „nine to five“ – für viele von uns ist das mittlerweile sehr weit von einem Idealbild in der Wissensgesellschaft entfernt. Doch wie würden wir arbeiten, wenn wir uns noch einmal neu erfinden könnten? Auch diese Frage wirft Filmemacher Gründling auf.

Bodo Janssen im Gespräch mit Pater Anselm Grün (Autor „Führen mit Werten“)

Bodo Janssen entschließt sich 2010 für einen dreitägigen Kurs im Kloster, eine Möglichkeit, die er fortan ebenso seinen Mitarbeitern zugesteht. Hinter den dicken Steinmauern wird er voller Wucht mit der Stille konfrontiert und damit mit sich selbst. Es ist die Ruhe, die sich anfänglich nur schwer ertragen lässt. Denn in der Stille begegnet man u.a. sich selbst und seinem ungelebten Leben, weiß Benediktinerpater Anselm Grün. Wie mühsam es ist, von den Bildern zu lassen, die man sich einst von der eigenen Person gemacht hat – der Film verdeutlicht dies in langsamen, bedächtigen Szenen. Janssens sinngemäße Bilanz: „Mein ganzes Leben war eine Maske, was ich hatte, was ich darstellte.“

Die stille Revolution ruft dazu auf, die Sinnfrage neu zu stellen. Nicht in Geldeinheiten sollen wir denken, aber vielmehr in sinnvoller Arbeit. Für Unternehmen bedeutet das: Wie kann ich einen Mitarbeiter so freisetzen, dass er bleibt? Was ist ein Mehrwert? Was will ich mit meinem Unternehmen beitragen? Und sollten wir vor diesem Hintergrund nicht besser von einem „Know-why“ denn von einem „Know-how“ sprechen? „Führen mit Hirn“ bzw. „Führen mit Werten“ ist möglich und keine Utopie, wie die 90 Minuten verdeutlichen, in denen eine Vogelperspektive auf das Konstrukt unserer bisherigen Fleißwirtschaft eingenommen und Erfolg neu definiert wird. Denn „Gier ist wie Salzwasser trinken: Es wird immer mehr“, bilanziert der deutsche Unternehmer Walther Kohl, Sohn des verstorbenen Ex-Kanzlers Helmut Kohl.

Gemeinsame Erlebnisse und Erfolge: Mit seinen Azubis kletterte Janssen auf den Kilimandscharo

Eineinhalb Stunden, in denen Menschen als „Jetzt-Wesen“ und nicht allein als Bestandteile von Fünf-Jahres-Plänen wahrgenommen werden, egal, ob Zimmermädchen oder Abteilungsleiter. Der ehemals gekränkte Unternehmer Janssen nutzt die Inhalte der positiven Psychologie, damit Mitarbeiter ihre Potenziale freiwillig und selbstbestimmt entwickeln können, sich selbst besser kennenlernen und zu mehr Freude in ihrem Arbeitsalltag finden. Dass das persönliche Wachstum am Ende zu wirtschaftlichem Wachstum führt, soll hier nicht verschwiegen werden.

Aber ist es eine Erfolgsgeschichte wegen zufriedener Angestellter. Und nicht trotz.

Alle Abbildungen mit freundlicher Genehmigung von kinofreund.

Die stille Revolution

Regie: Kristian Gründling
Land: Deutschland
Genre: Dokumentarfilm
Verleih: mindjazz pictures
Kinostart: 22.3.2018
Länge: 92 Minuten

Weitere Infos unter die-stille-revolution.de.
Alle Kinotermine findet Ihr hier.

 

Für die Pressekarten zur Kinovorführung in München bedanken wir uns bei der Kölner Filmpresse.

Mehr Unordnung für Ordnung

Für mich ist beim Einrichten und Gestalten weniger eindeutig mehr. Ein buntes Sammelsurium herumstehender Dinge? Mein absoluter Albtraum. Viel lieber platziere ich bewusst ausgesuchte Deko-Gegenstände auf den Oberflächen meiner Möbel. So fühle ich mich wohl, habe schöne Blickpunkte und eine pflegeleichte Einrichtung.

Sich selbst dafür zu entscheiden, ausschließlich ausgesuchte Dinge ins Haus zu holen, funktioniert wunderbar einfach. Bedeutend schwieriger wird es, mit all den Sachen, die tagtäglich von anderen an einen herangetragen werden, umzugehen. Familie, Freunde, Bekannte: Alle, die mich kennen, wissen beispielsweise von meinem Faible für gut gebaute Wohngegenstände. Deshalb werde ich regelmäßig mit Deko überrascht – in welcher Form und Farbe auch immer; bekomme ungefragt Vasen, Sammelfiguren, Blumentöpfe, Deko-Teller etc. Früher brachte mich das regelmäßig in eine moralische Zwickmühle: Einerseits freute es mich natürlich, wenn jemand an mich und meine Interessen dachte. Andererseits nervte es mit der Zeit immer heftiger, wenn ich ungefragt mit Dingen zwangsbeglückt wurde, für die ich mich niemals freiwillig entschieden hätte.

Eure besten Tipps rund um das Thema „Minimalismus“ in unserer neuen Blogserie

Was soll ich mit all dem Zeug?
Lange Zeit habe ich für jedes erhaltene Deko-Stück in Regalfächern, auf Kommoden und Fensterbänken den besten Platz gesucht. Dazu fühlte ich mich als Beschenkte verpflichtet. Doch irgendwann hat es mir gereicht: Ich wollte all diese Dinge einfach nicht mehr sehen. Also begann ich, meine Möbeloberflächen, Regalfächer, Fensterbänke, Schränke und Kommoden systematisch ab- und auszuräumen und mich von Dingen, die ich weder mochte noch brauchte, zu verabschieden. Übrig blieben nur meine Möbel, ausgesuchte Deko-Gegenstände, persönliche Sachen, wichtige Unterlagen und nützliche Dinge.

Die sortierte ich – soweit sinnvoll – in Aufbewahrungsboxen ein und verstaute sie in Schränken und Schubladen. Schließlich wollte ich meine Sachen nicht nur geordnet unterbringen, sondern auch schnell und einfach auf sie zugreifen können. Der Rest wurde gespendet, verschenkt oder verkauft. Ich war richtig glücklich und zufrieden mit mir selbst, als ich mich nach meiner rigorosen Ausmist-Aktion entspannt zurücklehnte und mein Werk betrachtete. Ich fühle mich richtig wohl in meiner neuen Wohnumgebung. „So kann es bleiben“, dachte ich mir. Blieb es aber nicht. Zumindest nicht lange. Irgendwie kam und kommt ständig neues Zeug an. „Da habe ich ausgemistet, sortiert, geordnet – und dann flattern von außen wieder Dinge ins Haus. Ständig. Fast täglich. Das darf doch nicht wahr sein.“

Wo kommt mein ganzes Zeug laufend her?

  • Familie, Freunde, Bekannte
    Liebe Menschen, die mich zu diversen Anlässen beschenken oder zu Besuchen gerne „bleibende Gastgeschenke“ ganz nach IHREM Geschmack mitbringen, obwohl sie wissen, dass ich wunschlos glücklich bin.
  • Post
    Prospekte, Kataloge und Broschüren, viel zu schön, um sie einfach wegzuwerfen. Oder womöglich beruflich noch einmal wichtig.
  • Werbegeschenke, Goodies
    Egal ob Kugelschreiber, Notizblock, Käppi oder Plüschfigur: Zu vielen Einkäufen und bei diversen Veranstaltungen gibt es Extras wie diese obendrauf.

Ich habe lange hin und her überlegt und herumprobiert, wie ich es schaffe, dieses Zeug nicht mehr (dauerhaft) ins Haus zu lassen. Meine alte Methode: Dinge, mit denen ich im Moment nichts anzufangen wusste, in irgendeinen Schrank zu legen, wo gerade Platz ist.

  • Nachteil 1: Das Zeug verteilt sich, zwar unsichtbar, über den ganzen Raum.
  • Nachteil 2: Legt und stellt man Zeug einfach so zwischen ordentlich Verstautem ab, wird es mühsam, in einen Schrank zu greifen und einfach etwas herauszunehmen.
  • Nachteil 3: Immer, wenn neues Zeug ankommt, muss überlegt werden, in welchem Schrank man es unterbringt.
  • Nachteil 4: Einmal unsichtbar weggeräumt, weiß man innerhalb kürzester Zeit nicht mehr, wo man das Zeug untergebracht hat: Und wird es deshalb nicht mehr los.

Meine neue, erfolgreiche Taktik: Ganz bewusst einen unordentlichen Bereich für Dinge reservieren, um die ich mich aktuell nicht kümmern will. Ich habe mir ein Kommodenfach speziell für regelmäßig eintrudelndes Zeug eingerichtet, das ich „Sammelstelle“ nenne. In diese Sammelstelle lege ich alles Ankommende ungefiltert hinein. Was nicht in das Fach passt, kommt mir nicht ins Haus. Einmal im Monat mache ich Inventur. Da sehe ich mir die gesammelten Dinge genauer an und beginne mit meiner Ausmist-Routine. Sprich: Von Dingen, die ich weder mag noch brauche, verabschiede ich mich. Den kleinen Rest, der nur ganz, ganz selten bleibt, ordne ich passend ein.

  • Vorteil 1: Etwas Zeug ist zwar ständig da, breitet sich aber nicht über den ganzen Wohnraum aus, da es an einem fixen Platz zwischengelagert wird.
  • Vorteil 2: Man muss sich nicht ständig Gedanken machen, was man mit dem Zeug anfängt, sondern erledigt diese Aufgabe einmal im Monat während der Inventur.
  • Vorteil 3: Kümmert man sich nur einmal im Monat um sein Zeug, gewinnt man Abstand und kann sich deutlich einfacher davon trennen.
  • Vorteil 4: Das Zeug bleibt mengenmäßig überschaubar, weil es regelmäßig aussortiert wird.

Mittlerweile habe ich begriffen: Ein Leben ohne Zeug gibt es nicht. Man kann aber fast schon nebenbei dafür sorgen, dass es nicht dauerhaft bleibt. Einfach ca. vier Wochen unsichtbar aufbewahren, mit etwas Abstand betrachten und abschließend kurzerhand endgültig aus seinen vier Wänden verbannen.

Wie gehst Du mit Dingen um, die ungefragt bei Dir zu Hause ankommen? Wendest Du etwas Ähnliches wie mein Sammelstellen-Prinzip an? Oder verrate mir Deine Methode bzw. Praxistipps.

Sonja hilft Menschen, ihr Zuhause schnell und einfach schöner zu machen © diemoebelbloggerin

Über die Autorin
Sonja Dworzak alias diemobelbloggerin bringt Menschen, die schöner wohnen möchten, via Einzelcoachings und Onlinekursen mit den richtigen Möbeln und Accessoires zusammen und zeigt ihnen, wie sie am besten zur Geltung kommen. Immer einfach mit Hausverstand.

Mehr von Sonja gibt’s auch auf ihrem Blog sowie auf Twitter und Pinterest. Beitragsbild © diemoebelbloggerin.

Praxistipps Minimalismus: Mitmachen
Wie lebt Ihr minimalistisch(er)? Schreibt uns eine E-Mail oder meldet Euch direkt über unsere Mitmachen-Seite. Gerne veröffentlichen wir Eure Erfahrungen auf unserem Blog. Wer mag, packt noch ein kurzes Foto von und ein paar Worte über sich dazu. Auch Vorher-Nachher-Aufnahmen sind herzlich willkommen.

Nachlese: Herrschaft der Dinge (Frank Trentmann)

Wie schreibt man eigentlich Konsumgeschichte in einem Zeitalter, in dem wir von einem stetig wachsenden Berg von Dingen umgeben sind? Vielleicht als Geschichte eines Beziehungs- bzw. Bedeutungswandels, als Historie der Veränderung und als Beitrag zu einer historischen Debatte. Letztgenannte begann übrigens nicht erst im 21. Jahrhundert, wo sich – so der deutsche Historiker Frank Trentmann (Professor für Geschichte am Birkbeck College der Universität London) – zwei Lager gegenüberstehen und mit ihm zwei Arten von Konsumenten. 1. Der passive, durch Kaufen, Billigkredite, Markenbildung und Werbung gelangweilte Konsument. 2. Der demokratische Wohlstandsbürger, der als Teil des Marktes unbehelligt seiner Wahlfreiheit frönt, Kinder und ältere Menschen als besondere Zielgruppen mitgedacht.

Egal, wie die persönliche Einordnung ausfällt: Einkaufen und Konsumieren sind keineswegs Akte geistloser Akkumulation, sondern haben identitätsbildenden Charakter. Menschen finden sich, das zeigen anthropologische Studien in Überflussgesellschaften, in ihren Besitztümern wieder und drücken sich durch sie aus. Dazu gehört auch, Dinge zu personalisieren und sich eine Erinnerungskultur zu schaffen, etwa wenn Materielles von Generation zu Generation weitervererbt wird. Im 15. Jahrhundert genauso wie heute.

Geschmack, Gewohnheiten, Handelsbeziehungen, Konsumkulturen: Kaffee birgt eine vielfältige Geschichte

Erwerb, Nachschub, Verbrauch
Aus diesem Grund (und aus zahlreichen anderen) geht es Trentmann in seinem mehr als 1000-seitigem Mammutwerk weder darum, Urteil in einer moralischen Debatte zu fällen noch eine Entscheidung zu treffen, ob Konsum >>gut<< oder >>schlecht<< ist. Wer Zeit und Muße hat, sich auf sechs Jahrhunderte Konsumgeschichte einzulassen, begibt sich aber dennoch auf eine Reise des menschlichen Verlangens nach immer >>mehr<<, gelenkt, gesteuert und gestutzt in jeweiliger Abhängigkeit vom politischen System, von Ideologie, materiellen Bedingungen uvm. In zwei großen Kapiteln widmet sich der Autor einer aufblühenden Kultur der Dinge im 15. Jahrhundert bis zum Ende des Kalten Krieges in den 1980er Jahren ebenso wie einer Einbettung zentraler, zeitgenössischer Herausforderungen in den historischen Kontext, darunter der sog. „Wegwerfgesellschaft“. Ist ihm diese hehre Wissensvermittlung gelungen?

Komplex, komplexer, Konsum
Das ganze Thema „Konsum“ ist komplex, komplexer, als es die Einleitung erahnen lässt. Viele Schwerpunkte werden lediglich angerissen, manche sogar regelrecht ausgelassen, wie Kritiker bemängeln. Trotzdem ist man um Vollständigkeit bemüht, um illustrierende Beispiele. Sie machen Geschichte zwar lebendig, laufen an der einen oder anderen Stelle aber Gefahr, zu singulär und zu wenig aussagekräftig für ein großes Ganzes und damit für allgemeingültige Ableitungen daherzukommen. Lesefluss und Übersichtlichkeit hätten von einer größeren Anzahl an Absätzen profitiert, Informationsdichte und Schreibstil bewegen sich zum Teil in einem schwergewichtigen Abhängigkeitsverhältnis.

Aller Kritik zum Trotz liefert Die Herrschaft der Dinge einen faszinierenden Einblick in die Welt der Güter und Waren, die seit dem 15. Jahrhundert mehr und mehr in einen globalen Austausch und Umlauf gerieten. Kauf und Auswahl von Dingen nahmen zu, Geschenke und Eigenproduktionen ab. Der interregionale bzw. globale Handel brachte die Kommerzialisierung des Alltagslebens mit sich. Bemerkenswert ist, dass etwa im 16. Jahrhundert zwar nicht von materiellen Neuheiten, wohl aber von einer Verfeinerung der Dinge gesprochen werden konnte, d.h. Kelche wurden bspw. kunstvoller gestaltet, aber die Materialien sowie die Art der Güter unterlagen kaum einer Veränderung. Im Gegensatz zu kurzlebigen Trends der „modernen“ Konsumgesellschaft, mussten Besitztümer eher dauerhaft und hochwertig sein, um als zeitloser Wertspeicher herzuhalten, der in einer bargeldarmen Wirtschaft bei Bedarf zum Pfandleiher wanderte.

Die Geschichte des Konsums ist folglich u.a. eine Geschichte des moralischen Kompass(es), ein kulturelles Konstrukt, in dem es wiederholt zu einer neuen (gefühlsgebundenen) Aufladung kam. Die anhaltende Kritik am Konsum zieht sich dabei parallel wie ein roter Faden durch Hunderte von Seiten, wobei sein interessanter Beitrag als sozialer Gleichmacher im Gegenzug glücklicherweise nicht vergessen wird. Wer im Wohlstand schwimmt, vergisst nur allzu leicht, welche Bedeutung ein neues, sauberes Kleidungsstück für einen anderen Menschen als Zeichen sozialer Inklusion und Selbstachtung besitzen kann.

Die Herrschaft der Dinge ist spannender Entwicklungsroman und fundiertes Sachbuch zugleich

Zugleich entlarvt die Übersichtsdarstellung die verbreitete (Fehl-)Annahme, Massenproduktion, Marketingkampagnen, Werbung und ihre Kontrahenten wie ethischer Konsum, Lokalwährungen sowie explizite Gegenbewegungen zum „Luxusshopping“ seien lediglich ein Phänomen vergangener Jahrzehnte. Bereits im Italien der Renaissance setzen Menschen mit materiellen und moralischen Vorbehalten ein Zeichen gegen Opulenz und Übermaß. Bereits im 18. Jahrhundert dominierten bspw. in württembergischen Gemeinden soziale und institutionelle Zwangsjacke(n), durch die das Verlangen und die Ausgaben im Zaum gehalten wurden. Ein Aufblühen des Konsums war in derartigen Umgebungen kaum möglich, nicht alle Menschen bzw. Schichten hatten – und haben bis heute – jederzeit uneingeschränkten Zugriff auf das vorherrschende Warenangebot. Konsument sein kann am Ende nur, wer Konsument sein darf.

Zeitarmut als Sympton des 21. Jahrhunderts?
Spannend ist es in diesem Gefüge auch zu beobachten, welchen Einfluss die Entwicklung des städtischen Lebens auf den Konsum hatte, wie und warum die Lust auf regionale Waren verschwand, wie Wasser und sogar Rollentreppen neue Sinnbilder und Netzwerke schufen, wie Einkaufen – mitunter – Selbstzweck bzw. Ziel des Lebens wurde und das Medium Radio das Ende der Stille einläutete. Dass unter Konsum nicht nur subsumiert wird, was sich im Allgemeinen zwischen (zu sich) nehmen und kaufen bewegt, ist eine echte Stärke des Opus Magnum. So wirft Trentmann die Frage auf, ob sich unsere Welt tatsächlich immer schneller dreht, und erläutert, warum zeitsparende Produkte in Wirklichkeit zu zeitintensiveren Freizeitbeschäftigungen führen. Seine These: Die Hyperaktiven unter uns besäßen die größte audiovisuelle Ausrüstung (CDs, MCs, LPs), was die symbiotische Beziehung zwischen zeit- und güteraufwendiger Freizeitbeschäftigung belege.

Mit den Folgen unseres Konsums setzt sich das letzte rund 100-seitige Kapitel Wegwerfgesellschaft? auseinander, welches einen breiten Bogen vom Irrsinn des Recyclings und des Überkonsums, vom Horten und von Faitrade-Produkten bis hin zur sog. „Disposophobie“ spannt, also der Angst sich von Dingen zu trennen. Letztgenannter steht paradoxerweise eine Kultur der Beseitigung gegenüber, in der die zunehmende Verschwendung von Ressourcen, wachsende Müllberge und mangelnde Verantwortung für die Gegenstände das Paradoxon in der Konsumenten-Apotheose verdeutlichen: Wachsende Freizügigkeit und Wahlmöglichkeiten in Vergangenheit und Gegenwart schaffen ökologische Herausforderungen in Gegenwart und Zukunft.

Historiker Frank Trentmann © Jochen Braun

Wer an dieser Stelle ausgereifte Lösungsangebote erwartet, dürfte allerdings enttäuscht werden. Frank Trentmann zeigt globale Zusammenhänge auf, entlarvt die Spezies Mensch als immerwährenden Konsumenten und räumt mit etabliertem Halbwissen rund um die Kultur des Materiellen auf. Sein Anspruch und Angebot an den Leser ist es, eine dichte, informative Diskussionsgrundlage zu schaffen, auf deren Basis wir unseren Konsum in einem neuen Licht betrachten, uns an Debatten fundiert beteiligen und zugleich die dringliche Aufgabe angehen können, einen nachhaltigeren Lebensstil zu finden. History will teach us nothing?

Um die Zukunft zu bewahren, brauchen wir eine umfassende Kenntnis der historischen Prozesse, durch die wir in die Gegenwart gelangt sind, sagt Trentmann. Passender Untertitel des englischen Originals: How we Became a World of Consumers. Für fundierte Minimalismus-Debatten unerlässlich.

Alle Zitate – soweit nicht anders angegeben – nach Frank Trentmann: Herrschaft der Dinge. Die Geschichte des Konsums vom 15. Jahrhundert bis heute. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2017 (40,00 Euro)

Für das Rezensionsexemplar bedanken wir uns bei der Deutschen Verlags-Anstalt (DAV).