Francine Jay ist „Miss Minimalist“ und bloggt seit 2009 über nachhaltigen Konsum und einen minimalistischen Lebensstil. Ihr gleichnamiger Blog gehört zu den ersten, die ich selbst regelmäßig zum Thema gelesen habe. Besonders ihre Kategorie „Real Life Minimalists“ und die Geschichten, wie Menschen zu Minimalisten geworden sind, inspirieren mich bis heute immer wieder aufs Neue. Mit The joy of less. A minimalist living guide hat die Autorin bereits 2009 im englischsprachigen Raum ein Standwerk zum Decluttern, Organisieren und Vereinfachen des Lebens geschrieben, das zu einer meiner ersten Ausmist-Lektüren zählt. Im Herbst 2016 erschien die deutsche Übersetzung unter dem Titel Less is more. Von der Freude des Weglassens beim Mosaik Verlag.
Herr der Dinge werden
Wer jetzt einen Vergleich zwischen Original und Übersetzung erwartet, den muss ich jedoch leider an dieser Stelle enttäuschen. Mein Plan war es, mich Less is more im Deutschen noch einmal vollkommen unbefangen zu nähern. Also wie zu Beginn meines eigenen Weges mit Weniger zum Mehr. Dass sich mein persönlicher Blick auf die Thematik in den vergangenen Jahren gewandelt hat, wurde mir allerdings schon beim Klappentext klar. Francine Jay präsentiert Minimalismus selbstbewusst als Lösung für ziemlich viele Probleme. Werde ein Minimalist und hol‘ dir die Konrolle über dein Leben zurück und werde ein glücklicherer Mensch. Das klingt zwar im ersten Moment durchaus verlockend und vielversprechend. Geht mir aber im zweiten Schritt gegen den sprichwörtlichen Strich, der Lebensstile und -haltungen förmlich zur (Ersatz-)Religion stilisiert, um am Ende – übertrieben gesagt – ein Heer an Besser- oder Gutmenschen zu kreieren.
Ich kann also nicht verhehlen, dass ich mit einer gewissen Skepsis beim Lesen gestartet bin, auch, weil mir selbst das reine Entrümpeln als Kennzeichen des Minimalismus auf den ersten Seiten zu eng gefasst ist. Aller anfänglichen Skepsis zum Trotz: Das Buch gewinnt mit jeder Seite an Fahrt. Ein wichtigen Ansatz, den Jay verfolgt, besagt: Wenn wir wirklich dauerhaft […] minimalisieren wollen, müssen wir […] unsere Einstellungen und Gewohnheiten ändern. Ähnlich wie bei einem dauerhaften Gewichtsverlust müssen wir achtsam bleiben für das richtige Maß und entsprechende Grenzen setzen, also den permanenten Zustrom von außen kontrollieren. Diese Verhaltensänderungen brauchen Zeit.
Wie (später) Marie Kondo plädiert sie dafür, an Dingen nur aus Freude, nicht aber aus Pflichtgefühl festzuhalten. Das Wegwerfen ist hier jedoch glücklicherweise nur die letzte von vielen Möglichkeiten. Ein eindeutiger Pluspunkt im Gegensatz zur ihrer japanischen Aufräumkollegin. Denn Minimalismus leben heißt bei der Amerikanerin, Verantwortung für seinen Besitz zu übernehmen: Dafür, wie jeder einzelne Artikel in dein Leben gekommen ist. Aber auch dafür, wie er möglichst verträglich wieder aus dem Haus kommt. Mit anderen Worten: Wir müssen für den gesamten Lebenszyklus eines Gegenstandes, den wir kaufen, Verantwortung übernehmen, und dazu gehört auch seine Beseitigung.
Und: Kenner der drei oder (wie bei Bea Johnson) fünf „Rs“ (refuse, reduce, reuse, recycle, rot) bekommen hier zusätzlich die drei „Ws“ an die Hand, nämlich wegwerfen, würdigen, weitergeben. Wie dieses Konzept in der Praxis aussieht, erklärt die Expertin in einer gewissen Redundanz gebetsmühlenartig in einem theoretischen sowie in einem praktischen Teil. Von Wohn-, Schlaf- und Arbeitszimmer bis hin zu Küche, Bad, Lager und Co. wird in sogenannten „Modulen“ gearbeitet, die unser Hab und Gut auf bestimmte Flächen und Plätze für mehr Ordnung verweisen. Formen der Capsule Wardrobe und ihre Umsetzung gleich mitgedacht.
Um dem Krempel als soziales Wesen wirkungsvoll zu begegnen, greift die Bloggerin durchaus zu drastischen Gedankenspielen. Oder hast Du Dir schon einmal überlegt, was Du im Katastrophenfall als Erstes und Einziges retten würdest? Oder hast Du wirklich schon einmal alles aufgeschrieben, was Du besitzt, von der Socke bis zur Tiefkühltruhe? Egal, wie die Antwort ausfällt: Entrümpeln ist unendlich viel einfacher, wenn du entscheidest, was du behältst – und nicht, was du wegschmeißt. Hilfestellungen bieten die zahlreichen Fragen, die wir an die fragwürdigen Gegenstände stellen sollen. Aber auch die an uns selbst: Warum leben wir nie in der Gegenwart? Warum können wir nicht genießen, ohne zu besitzen? Warum wollen wir unsere Wohnung oft zum Museum unserer Vergangenheit machen? Warum benutzen wir 20 Prozent unseres Besitzes in 80 Prozent unserer Zeit, Stichwort „Pareto“? Warum glauben wir, stets mit anderen mithalten zu müssen beim Konsum, bei Klunker und Kokolores?
Überlegungen, die auch Robert Wringham bei seinem Werk Ich bin raus wiederholt aufgreifen wird. Plädoyer seiner Schwester im Geiste: Lasst uns zum Minsumenten werden, also zu jemandem, der seinen Konsum entsprechend seinen grundlegen Bedürfnissen minimiert und damit den Einfluss auf Umwelt und Leben der anderen. Ein grundsätzliches Verbot, jemals noch den Fuß über eine Ladenschwelle zu setzen, ist damit nicht verbunden.
Become a Minsument
Francine Jay entlarvt Techniken, mit denen wir uns beim Aussortieren gerne selbst betrügen, ermuntert uns zum Verbraucher-Ungehorsam, plädiert für Secondhand als (lokale) Shopping-Standardquelle beim Neukauf und nimmt einem die Angst, dass ein Entsorgen von Dingen einer Trennung vom Ich gleichkäme. Hilfreiche Tipps zum Umgang mit unliebsamen Geschenken sowie mit hortenden Mitbewohnern wie die Rauskiste helfen dabei, auf den – ganz wichtig – eigenen positiven Level zu reduzieren. Nicht ganz so glücklich erscheinen mir einige sprachliche Formulierungen zu Beginn, zumal der deutsche Wortschatz mehr als „wird“ und „werden“ zu bieten hat. Auch die Pauschalität, dass wir in jungen Jahren stets sorgenfrei und glücklich, weil tendenziell eher besitzlos waren, ist mir von zu weit her geholt. Ach ja, und Kleidercontainer sind leider nicht in jedem Fall ein grüner Weg, um Abgetragenes getrost entsorgen zu können.
Zu guter Letzt sei gesagt: Jede Entscheidung gegen etwas ist ein Geschenk an den Planeten. Die Luft wird etwas reiner sein, das Wasser ein wenig klarer, die Wälder ein bisschen grüner, die Müllhalden etwas leerer. Minimalismus ist – da stimme ich Jay zu – die simpelste Form von Aktivismus, dennoch hat er die Macht, unser Leben, unsere Gesellschaft und unseren Planeten zu verändern.
Alle Zitate nach Francine Jay: Less is more. Von der Freude des Weglassens. Mosaik Verlag, München 2016 (16,99 Euro)
Getreu dem Thema des Buches geben wir unser Rezensionsexemplar gerne direkt an Euch weiter. Wer Interesse hat, hinterlässt bis 11. Juni 2017 einen Kommentar auf dem Blog samt E-Mail-Adresse (nicht öffentlich sichtbar!) oder direkt unter dem entsprechenden Facebook-Beitrag. Der Rechtsweg ist ausgeschlossen. Umtausch oder Barauszahlung des Gewinns sind nicht möglich. Teilnahmeberechtigt sind Personen ab 18 Jahren. Viel Glück!