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Zugedacht: Zeitwohlstand Minimalismus

Hamburg – München. Auf der Heimreise im ICE. Die digitale Informationstafel fragt mich, was ich mit der Reisezeit mache. Insgesamt sechs Stunden. Ich soll es einfach der eingeblendeten Webseite erzählen. Schließlich gehört diese Zeit nur mir. Das  steht zumindest da. Naja, ich könnte mir was Besseres vorstellen als hier zu sitzen. Den wechselnden Anzeigen entnehme ich, dass unser Zug gerade mit 247 km/h durch die Nacht rast; trotzdem werden wir den nächsten Halt erst mit 16 Minuten Verspätung erreichen. Der erste Halt Richtung Heimat und bereits eine ordentliche Verspätung: Was für ein Ärgernis! Oder? Die (Frei-)Zeit ist schließlich kostbar. Und das verlängerte Wochenende bei Freunden in Hamburg wie im Flug vergangen. Morgen muss ich früh raus und in die Schule, da kann ich wirklich keine Verspätung brauchen…

Zeitnotstand
Doch halt – was rege ich mich denn eigentlich über eine solche Nichtigkeit auf? Meine Gedanken schweifen ab. Zur Frage, wie ich meine Zeit nutze. An einem beliebigen Arbeitstag. Wie oft stehe ich im Stau oder in einer Schlange und ärgere mich über die unnötige Zeitverzögerung. Schon wieder die falsche Kasse gewählt! Was muss der Kunde vor mir hier unbedingt seine Centstücke loswerden? Wäre ich doch lieber über den Mittleren Ring gefahren, dann könnte ich mindestens fünf Minuten Fahrzeit sparen.
Wie oft fühle ich mich gestresst, blicke genervt auf meinen Lebensalltag und sehne die nächste freie Zeit herbei. Wie oft werden negative Gedanken übermächtig: Wenn doch dieser Arbeitstag schon rum wäre! Und wann sind endlich wieder Ferien? Ein Leben von Wochenende zu Wochenende. Dazwischen scheinbar nur Alltagsstress. Dieses negative Gefühl droht alles zu überlagen – zu Lasten der Lebensfreude und der Zufriedenheit.

Zeitwohlstand
Eigentlich ist das total verrückt. Selbst in der scheinbar so spärlichen Freizeit wird nur noch schnell dies erledigt oder nur noch kurz das getan – dann, ja dann kann man sich endlich entspannen, endlich die Zeit für sich nutzen. Oder in der Realität: völlig kaputt ins Bett fallen. Warum ist das so? Ich bin kein Topmanager, kein Börsenmakler – trotzdem fühle ich mich zu oft unter Zeitdruck, bin zu oft gestresst. Und spätestens seit dem Dokufilm „Speed. Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ weiß ich, dass ich mit diesem Gefühl nicht allein bin.
Warum das so ist? Eigentlich haben wir genug Zeit – historisch gesehen. Noch nie sind die Menschen so alt geworden wie heute. Auch hatten selbst unsere Urgroßeltern noch deutlich weniger Freizeit. Trotzdem ist der moderne Mensch unendlich gestresst; meint ständig, einfach keine Zeit zu haben. Daher verwundert es nicht: Entschleunigung, Achtsamkeit und Besinnung auf das Wesentliche sind immer wieder  die Zauberworte in einschlägigen Magazinen und Medienberichten. Doch wie kommt man dahin?

Minimalismus leben heißt selbstbestimmt(er) leben
Es sind die ständig auf uns einprasselnden Möglichkeiten und die unendlich große Informationsflut, die uns letztendlich stressen. Davon bin ich überzeugt. Aber wie gelingt der Ausstieg aus diesem oftmals selbstgewählten Hamsterrad? Eines vorneweg: Ich stehe erst am Anfang meines Wegs aus diesem Teufelskreislauf. Aber dank unseres gelebten Minimalismus bin ich zuversichtlich, dass uns ein selbstbestimmtes Leben immer besser gelingen wird. Eine wesentliche Lektion habe ich bereits gelernt: Man kann nicht alles haben, alles machen, alles wissen und alles erleben. Ohne Beschränkung, ohne Bewusstmachen der eigenen Endlichkeit verliert man sich auf der Jagd nach dem perfekten Leben.
Minimalismus hat mich gelehrt, dass man nicht nur Dinge loslassen darf, die die Wohnung vermüllen, sondern auch Lebensträume, Menschen, Wünsche und Sehnsüchte. Sich aus dem unendlichen Reigen der verschiedenen Lebensoptionen zu verabschieden, ist oftmals verdammt schwer. Immer wieder stehen einem eigene Zwänge, ein längst überlebtes Selbstbild oder gesellschaftliche Konventionen im Weg. Aber nur wenn man das abstreifen kann, besteht überhaupt die Chance, einen wirklichen (Lebens-)Traum umzusetzen, ein Ziel tatsächlich mit aller Kraft verfolgen zu können.

Fällt die Lebenslüge „Wenn-dann“ weg, geht es ans Eingemachte. Was will ich wirklich, was macht mich zufrieden, ja vielleicht sogar ein wenig glücklich?

„Hinter jedem meiner Worte stehen Tage, die waren,
sind ein paar tausend wohl an der Zahl,
sind noch paar Tage vor mir, was soll ich damit machen,
die besten Sachen im Leben sind keine Sachen.“

Prinz Pi – Werte (2015)

#MoreMoments 1: Kleider für Julia

Ein Kleidungsstück wird nicht einfach im „Laden geboren“. Von der Idee bis zum fertigen Stück sind viele Arbeitsschritte notwendig. Wer keine Lust auf Fast Fashion und billige Wegwerfmode hat, ist bei Andreia genau richtig. Seit zwei Jahren schneidert die Portugiesin fast alles komplett selbst – und lässt andere Menschen im Internet daran teilhaben. Auf Kleider für Julia gibt es kostenlose Videoanleitungen zum Thema: vom eigenen Schnitt bis zur maßgeschneiderten Garderobe. Das gefällt mittlerweile nicht nur ihrer neunjährigen Cousine Julia, die als Inspiration und Namensgeberin indirekt Teil des Kanals ist.

Mit Minimalismus21 hat Andreia über ihre Leidenschaft fürs Nähen, den Wert von Mode und ihre Abneigung gegen Billigketten gesprochen.

Wann hast Du das Nähen für Dich entdeckt?
Ich fand Nähen schon immer spannend. Als ich zehn Jahre alt war, hatte mir eine Bekannte unserer Familie – die zugleich Schneiderin war – beigebracht, wie ich die Kleider von meinen Puppen durch Abnäher besser an ihre Körper anpassen kann. Das hat mich sehr beeindruckt! Ich habe weiter genäht, aber immer nur gelegentlich mit der Maschine meiner Mutter. Als ich mir 2014 meine erste eigene gekauft habe, hat es sich zu einer richtigen Liebe entwickelt. Vor allem als ich anfing, meine eigenen Schnittmuster zu machen: Da hat das Ganze eine andere Dimension bekommen.

Wie bist Du auf die Idee gekommen, 2015 einen YouTube-Channel zu erstellen?
Ich habe selbst viele Nähvideos auf YouTube gesehen und schnell dazu gelernt. In Portugal sind solche Videos in meiner Muttersprache sehr üblich. Irgendwann habe ich deutschsprachige Videos dazu gesucht und festgestellt, dass es relativ wenige gibt. Es sind zum Beispiel keinerlei Infos vorhanden, wie man ein Schnittmuster selbst erstellen kann. Dadurch kam mir die Idee, Nähvideos auf Deutsch zu drehen.

Die Motivation weiter zu machen kam aber vor allem durch das Feedback. Es ist unbeschreiblich schön, wenn dir Leute schreiben, dass sie durch deine Videos ein Schnittmuster mit den eigenen Maßen erstellt haben. Und dass sie dadurch das erste Mal verstanden haben, dass die Klamotten im Laden falsch waren. Und nicht ihre Körper. Ich hätte nie gedacht, dass Kommentare so wichtig sein können. Das Gefühl, die Videos für wirkliche Menschen zu machen, ist für mich zum Wichtigsten an meinem YouTube-Kanal geworden.

Wie viel Zeit investierst Du in Dein Hobby?
Ich verwende sehr viel Zeit für mein Hobby und würde gerne noch mehr damit zubringen. Es macht mich wahnsinnig glücklich, an meinem Projekt zu arbeiten. Die Zeit, die ich für jedes Video benötige, ist sehr unterschiedlich. Für ein Video, in dem ich beispielsweise die Anleitung für einen Grundschnitt zeige, benötige ich ca. vier Stunden. Ein Nähvideo kann dagegen auch mal 30 Stunden in Anspruch nehmen. Am längsten dauert am Ende das Schneiden.

Woher beziehst Du Deine Materialien wie etwa die Stoffe?
Am Anfang habe ich ein bisschen von allem gekauft. Ich bin immer wieder in typische Stoffläden gegangen und habe mir nach Lust und Bedarf immer wieder etwas gekauft. Dann habe ich die Doku „The True Cost“ gesehen und war sehr schockiert. Mir war schon vorher bewusst, dass die Arbeitsbedingungen in der Fast-Fashion-Industrie schrecklich sind: Das kann ich nicht ertragen. Aber dass auch die Herstellung von Baumwolle so schädlich für die Umwelt und die Menschen in ihrer Umgebung ist, war mir nicht bewusst. Gleich nach dem Ende der Doku bin ich auf die Suche nach Alternativen gegangen. So bin ich auf das GOTS-Zertfikat für Stoffe gestoßen, also den Global Organic Textile Standard. Leider sind solche Stoffe fast nur Online zu finden. Ich mag es lieber, die Stoffe in der Hand zu haben, bevor ich sie kaufe. Der Vorteil ist jedoch, dass ich deswegen deutlich weniger Stoffe kaufe und noch viel besser überlege, was ich überhaupt brauche.

Kaufst Du eigentlich noch „fertige“ Kleidung in Kaufhäusern und Co.?
In den letzten zwei Jahren habe ich lediglich Jeans, Unterwäsche, Socken und Strumpfhosen fertig gekauft. Und auch nur, wenn ich sie wirklich gebraucht habe. In diesem Jahr habe ich zum Beispiel noch nichts Fertiges gekauft. Und da ich gerade merke, dass ich langsam eine Jeans benötige, überlege ich schon, wie ich auch sie selber nähen kann. Mit Unterwäsche mache ich ebenfalls bereits erste Experimente. Wo ich noch keine Ideen habe, ist bei Strumpfhosen. Die werde ich wahrscheinlich weiter herkömmlich kaufen müssen.

Wie viele Kleidungsstücke hast Du schon selbst genäht?
Ich war bei 30, als ich aufgehört habe zu zählen. Und danach habe ich noch eine Menge genäht. Viele Stücke habe ich aber verschenkt, da mir vor allem am Anfang die Schnitte nicht immer gepasst haben. Das war auch der Grund, warum ich mich daran gemacht habe, eigene, passende Schnittmuster zu erstellen.

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Kleider für Julia – der Name ist Programm

Was macht für Dich den Wert von Kleidung aus?
Ein Kleidungsstück ist für mich wertvoll, wenn es mir etwas bedeutet. Als Jugendliche war ich sehr idealistisch und fand alles, was mit Kleidung zu tun hat, sehr oberflächlich. Mit der Zeit habe ich aber verstanden, dass mein Aussehen auch eine Seite von mir ist, und dass diese Seite zu missachten bedeuten würde, auch einen Teil von mir zu missachten. Es ist nicht wichtiger als mein Inneres, aber auch nicht unwichtig. Jetzt sind für mich Kleider ein Teil meines äußeren Erscheinungsbilds. Was ich anziehe, hat viel mehr damit zu tun, wie ich mich an dem Tag fühle, als damit, was im Trend ist.

Wenn ich an mein wertvollstes Kleidungsstücke denke, muss ich gleich an meine Lieblingsbluse denken – eine Bluse, die mir meine Oma geschenkt hat. Oder an ein T-Shirt, das ich mir in meinem Erasmus-Semester in England gekauft habe. Es erinnert mich daran, was ich alles in diesen sechs Monaten gelernt und erlebt habe. Danach kommen meine selbst genähten Stücke. Die sind mir alle wertvoll, weil ich in jedes einzelne viele Gedanken, viel Liebe und auch viel Zeit gesteckt habe. Und weil sie am besten zu mir passen. Ein Stück ist sehr wertvoll für mich, wenn es von mir für mich gemacht wurde.

Was sagst Du zu großen Billigketten, die Kleidung am Fließband anbieten und fast wöchentlich eine neue Kollektion in den Läden haben? Stichwort „Fast Fashion“.
Für mich ist das ein schrecklicher Weg, Müll auf die Welt zu bringen. Ich kann es überhaupt nicht nachvollziehen… Dieses Thema macht mich so sauer, dass es schwierig für mich ist, darauf eine ruhige Antwort zu geben. Ich finde es einfach widerlich.

Was denkst Du über Secondhand-Shops?
Ich finde die Idee dahinter gut, stehe aber persönlich eher auf Flohmärkte. Aber wahrscheinlich nur, weil man dann draußen unterwegs ist.

Wer Lust bekommen hat auf „Do-it-yourself“ und seinen eigenen Stil kreieren möchte, findet Kleider für Julia auch auf Facebook und Instagram.

Alle Abbildungen mit freundlicher Genehmigung von Kleider für Julia.

More Moments
Du willst anderen Menschen zeigen, was Dein Leben erfüllt, was Dich wirklich glücklich macht und bereichert? Du „sammelst“ lieber schöne Momente als Dinge und verbringst Zeit mit etwas Wertvollerem als mit „compulsory consumption“? Dann melde Dich bei uns und erzähle Deine (Minimalismus-)Geschichte. Wir freuen uns auf Dich.

#MoreMoments. Was wirklich wertvoll ist im Leben. Die aktuelle Blogserie auf Minimalismus21. Alle (vorherigen) Teile der Serie findet ihr unter dem Suchbegriff #MoreMoments rechts oben (Lupe) und natürlich bei Twitter.

#MoreMoments. Was wirklich wertvoll ist

Was ist Minimalismus? Wie viel Kleidung ist genug? Wie lasse ich geerbtes Gerümpel los? Kunststoffe in Shampoos, Downshifting, Pflege von Holzzahnbürsten, Fastenzeit – das sind nur einige Fragen und Suchbegriffe, die wir unserer Webseitenstatistik entnehmen können. Sie zeigen: Minimalismus ist ein weites Feld. Wer einmal angefangen hat, dem Konsumwahnsinn eine andere Perspektive entgegenzusetzen, stößt schnell auf weitere verwandte Themen- bzw. Interessensgebiete. Bei sich selbst und bei anderen.

Doch was bleibt eigentlich übrig, wenn wir all die Dinge entsorgt haben, die wir nicht mehr benötigen. Was kommt nach dem Ausmisten, Entsorgen, Loslassen, Decluttern usw.? Was bleibt, wenn wir hauptsächlich das in unserem Leben belassen und in unser Leben lassen, was Bereicherung und ein gutes Gefühl verspricht? Wie verändert sich der Blick auf das eigene Dasein? Wem oder was wollen wir mehr Zeit und Aufmerksamkeit widmen, wenn wir selbstbestimmt äußeren und inneren Ballast abgeworfen haben? Viele Fragen, viele mögliche Antworten, unter denen weder die eine noch die andere oder gar unsere der Weisheit letzter Schluss ist.

More Moments
Aus diesem Grund stellen wir ab sofort Dich mehr in den Mittelpunkt auf Minimalismus21 und eine unserer persönlichen Leitlinien: Collect moments, not things. Wir wollen von Euch wissen, wofür Ihr brennt: Was verschafft Euch Zufriedenheit im Leben? Welche Momente machen Euch glücklich? Los geht’s mit der bezaubernden Andreia und ihrer Liebe zum Nähen. Kleider für Julia:  Teil 1 unserer neuen Blogserie #MoreMoments.

Wenn auch Du lieber schöne Momente als Dinge „sammelst“ und lieber Zeit mit etwas Wertvollerem als mit „compulsory consumption“, verbringst, dann melde Dich bei uns und erzähle Deine (Minimalismus-)Geschichte – ganz egal, ob Backen, Pilgern, am Tiny House schrauben oder auf der Alm arbeiten der persönliche Lebensweg zum Glück ist. Wir freuen uns auf Dich!

#MoreMoments. Was wirklich wertvoll ist im Leben. Die aktuelle Blogserie auf Minimalismus21.