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Nachlese: Hygge No 1

Irgendwann hat sich ein neuer Begriff in meinen Kopf breitgemacht: Hygge. Ich kann gar nicht mehr sagen, wann ich zum ersten Mal darüber gestolpert bin. Vermutlich auf Instagram. Auf einem der zahlreichen Bilder, die Wohlfühlmomente mit einfachen Dingen in gemütlich-geborgener Atmosphäre versprechen. Zugegeben: Ich fand das zunächst etwas albern. Ein weiteres Buzzword, das aus dem Dänischen bzw. Norwegischen in unsere Breitengrade geschwappt und wie geschaffen für romantisch-verklärte Bloggerwoohoos ist: gemütlich, angenehm, nett, gut. So die wörtliche Bedeutung des Adjektivs, das ein Lebensgefühl zu transportieren verspricht, ein Gegenstück zur fortschreitenden Digitalisierung der Gesellschaft und zu ihrer Beschleunigung. Aus Minimalismus-Sicht bin ich bei neuen „Trends“ stets etwas kritisch, weil naturgemäß die Kommerzialisierung derselben meist nur eine Frage der Zeit ist. Aus Rezensions-Sicht pflege ich jedoch eine unvoreingenommene, neutrale Perspektive. Und aus beruflicher Sicht weiß ich, wie hart umkämpft der Printmarkt im digitalen Zeitalter geworden ist und warum guter Content kosten darf und muss. Egal, ob auf Papier oder im Netz.

Mein Moment: Wie Kreativdirektor Andreas Lichtenstein in den Bergen abschaltet

Hygge No 1: Ein Sommer mit Freunden
Im Fall des neuen Hygge-Magazins aus der Verlagsgruppe Deutsche Medien-Manufaktur (DMM) sind das übrigens fünf Euro für eine 162 Seiten starke Ausgabe mit einem zurückhaltenden und unaufdringlichen Werbeanteil. Aber mit einer nahezu familiären, einladenden Haltung, die den Leser schon im Editorial warm empfängt und abholt: Die gesamte Redaktion zeigt gleich zu Beginn Gesicht, ihre Mitglieder tauchen im weiteren Verlauf mit kleinen Geschichten aus ihrem Leben erneut auf. Das wirkt authentisch und schafft Nähe, etwa wenn Kreativdirektor Andreas Lichtenstein über seine Leidenschaft für das Bergwandern und seine Faszination für die Kargheit der Natur spricht. Überhaupt zieht sich diese „Kargheit“ in etlichen Facetten, Synonymen und Artikeln durch die vier verschiedenen Rubriken Zusammen sein, Verwöhnt werden, Zuhause sein und Draußen sein. Denn nicht umsonst lautet der Untertitel dieses Heftes Das Magazin für das einfache Glück.

#MoreMoments auf Papier gedruckt
Und das drückt sich in zahlreichen analogen Momenten über und von Menschen aus, die gemeinsam musizieren, kochen, verreisen, gärtnern oder handarbeiten. #MoreMoments also, wie wir bei Minimalismus21 sagen würden. Dennoch scheut man auch vor kritischen Tönen nicht zurück, zum Beispiel bei der Frage, ob es bei Hygge also doch vor allem um einen Rückzug ins Private gehe, ums heimelige Zuhause, in dem Störfaktoren einfach ausgeblendet werden? Also Augen zu und Kopf in den Sand in Anbetracht der grausamen Welt? Diese Lesart lässt sich im Grunde bei derartigen Konzepten immer an den Tag legen. Doch frage ich mich und Euch an dieser Stelle, ob – übertragen gesprochen – bei einer bewussten Entscheidung für die Gattung Komödie das fehlende tragische Moment, bei einer reinen Liebesschnulze das mögliche Scheitern der Paarbeziehung ernsthaft bemängelt werden würde?

Das Glück liegt nicht nur in den großen Dingen

Hygge erhebt den Anspruch, gleichermaßen gesellschaftliche Werte wie den respektvollen Umgang miteinander oder das Grundvertrauen in seine Mitmenschen abzubilden, quasi eine Art Leitfaden dafür, wie man miteinander zufriedener leben kann. Diese Zufriedenheit drückt sich primär in nicht-materiellen Gütern und nicht-monetären Werten aus, nämlich in den Währungen Zeit, Gemeinschaft, Achtsamkeit, Toleranz, Gelassen- und Geborgenheit. Dinge, die im Grunde unbezahlbar, aber doch so existentiell für ein erfülltes Dasein sind. Dinge, die wir im Alltag oft vergessen, für die wir uns wenig bis keinen Raum nehmen, die untergehen auf der Jagd nach dem „perfekten“, dem einen Leben, das sich nur allzu schnell zwischen Social-Media-Inszenierung und Instagram-Filter verliert.

Simplify your life: Aufräumen und Ausmisten sind Balsam für Seele und Wohnung

Apropos Inszenierung: Hyggelig wirken neben den leichten, kurzweiligen, aber dennoch ansprechenden Texten die Illustrationen und Grafiken auf mattem Papier. Die Fotos sind professionell gemacht, herzerwärmend, aber nicht hochglanzpoliert oder künstlich. Die Produktplatzierungen kommen unaufdringlich daher und beinhalten interessante kulinarische Empfehlungen ebenso wie Lektürehinweise und Reisetipps. Wie Herr M21 bereits in seiner Besprechung zum „Männer-Magazin“ Wolf geschrieben hat, versprüht Hygge diese undefinierbare Sehnsucht nach analoger Langsamkeit, mit der sich die Welt unserer Jugend offenbar noch gedreht hat; beide Magazine haben mit Sinja Schütte übrigens dieselbe Chefredakteurin. Ist dieses Printmagazin also für die Zielgruppe der ewig Gestrigen gemacht? Für die, die zwischen Midlife Crisis und Midlife Change einer versunkenen Welt hinterhertrauern? Einer Welt, die sich scheinbar mühelos zwischen endlosen Sommertagen, konkurrenzlosen Freundschaften, ungeplanten Augenblicken, Slow Food und archaischer Würstchenbraterei am Lagerfeuer bewegt hat?

Hygge No 1. Ein Sommer mit Freunden

Mich hat das Lesen jedenfalls mit einer tiefen Zufriedenheit erfüllt – ob beim Schmökern der Artikel oder beim wiederholten Betrachten der Bilder. Im Interview von Florian Zinnecker mit dem Lehrbeauftragten Franz Berzbach spricht der promovierte Kulturpädagoge davon, was uns frei macht: Aufräumen, sortieren, mit wenigen Dingen leben. Aber mit den richtigen. Daran hat mich Hygge wieder einmal erinnert und positiv bestätigt. Meine Empfehlung also für dieses heimliche Minimalisten-Magazin. Neidlos. Aber mit positiver emotionaler Anhaftung.

 

Mehr Hygge gibt’s auf Facebook sowie bei Instagram. Die nächste Ausgabe erscheint voraussichtlich am 13. September 2017.

Für das Rezensionsexemplar – aus dem die Zitate stammen – bedanken wir uns bei Gruner + Jahr.

Less Waste: Grüne Lesertipps für Einsteiger

Minimalisten sind Gewohnheitstiere. Nachdem sie sich für ein reduziertes, entrümpeltes, vereinfachtes und nachhaltigeres Lebensmodell entschieden haben, tragen sie standardmäßig Jutebeutel und Mehrwegbehälter bei sich. Reflexhaft verweigern sie Plastiktüten, lehnen Give-aways ab und recyceln voller Selbstverständlichkeit wertvolle Rohstoffe. Klingt nach Klischee?

Gewohnheiten und Komfortzone den Rücken kehren
Tatsächlich geht es mir um die Botschaft dahinter: Wir alle sind Kinder unserer Zeit, unserer Erfahrungen, Erziehung, Sozialisation, unseres kulturellen und wirtschaftlichen Umfelds und sicherlich noch viel mehr. Aus dieser Gemengelage entstehen persönliche Gewohnheiten, haben sich bestimmte Reaktionsmuster als treue und zuverlässige Begleiter herausgebildet, von denen wir oftmals nicht lassen können oder wollen. Ist ja auch kuschelig in der Komfortzone, egal, ob es um Verhaltens-, Denkweisen oder schlichtweg um Gefühle geht. Wer den Begriff „Gewohnheiten“ bei Google eingibt, erhält als Ergänzung sofort den Zusatz „ändern wie lange“ vorgeschlagen. Das kommt nicht von ungefähr.
Allein kalendarisch betrachtet gibt es unzählige willkommene Anlässe, unsere täglichen Doings einem Reset zu unterziehen bzw. zu „optimieren“. Frei nach dem Motto: Der nächste Jahreswechsel steht schon vor der Tür. Der nächste runde Geburtstag ebenfalls. Wer institutionalisiert gleich nach den Sternen und damit nach dem großen Ganzen greift, verliert meistens schnell Mut und Motivation. Denn alte (An-)Gewohnheiten lassen sich nicht über Nacht durch neue ersetzen. Die 180-Grad-Drehung gelingt wohl den wenigsten Menschen im Normalfall auf Anhieb.

Einfach mal (anders) machen
Getreu unseres Mottos „Mit Weniger zum Mehr“, möchten wir Euch deswegen simple Einsteigertipps für weniger Abfall und mehr Rohstofferhaltung an die Hand geben. Ohne Risiken und Nebenwirkungen, aber mit Auswirkungen. Sie stammen allesamt aus den Reihen unserer Blog-Leserinnen und -Leser: Im Rahmen unseres Gewinnspiels für zwei Menstruationskappen von Lunette wollten wir unlängst wissen, wie Ihr Euer Leben im Alltag ressourcenschonender bzw. müllärmer gestaltet. Die Antworten gibt’s jetzt in einer kompakten Zusammenfassung. Weil viele kleine Schritte in Summe zu einem größeren Ganzen und im Idealfall schrittweise zu „besseren“ Gewohnheiten führen.

Einen Anspruch auf Vollständigkeit und den perfekten Nachhaltigkeitsplan erheben wir nicht. Wer mag, darf die Aufzählung natürlich gerne ergänzend kommentieren. Los geht’s!

Lektüretipp zum Thema: Bea Johnson: Zero Waste Home. Glücklich leben ohne Müll! Reduziere deinen Müll und vereinfache dein Leben. Verlag Ludwig 2016 (19,90 Euro)

JOMO: The Joy of Missing Out

Minimalismus bedeutet Loslassen für mich. Allerdings sind damit schon längst nicht mehr nur haptische Dinge gemeint. Wer unserem Instagram-Account folgt, weiß: Vor Kurzem waren wir auf einem Retreat im Allgäu, genauer gesagt im Zen-Kloster Buchenberg. Titel der privaten Weiterbildung: Always Ohmmm. Eine spielerische Wortneuschöpfung nach meinem Geschmack. Aber mit ernstem Hintergrund:

„Auf der einen Seite sind wir überfordert durch unzählige Kommunikationskanäle. Auf der anderen Seite sind diese nicht mehr aus unserem Leben wegzudenken und erleichtern unser Alltagsleben. Obwohl wir doch ständig „on“ sind, fühlen sich viele Leader und Mitarbeiter in Unternehmen wenig „connected“, berichten über Sinnkrisen und suchen nach neuen Ufern für ihre Selbsentfaltung. Burnouts, gescheiterte Familien, fruchtlose Meetings und „low energy“ sind die Symptome unseres digitalen Zeitalters“, schreiben die Veranstalter auf ihrer Webseite.

Always on
Unter dem Motto „Mindful Leadership in the Digital Age“ beleuchteten zahlreiche Speaker aus Wissenschaft und Wirtschaft in Buchenberg die Frage, wie wir im digitalen Zeitalter achtsamer mit uns selbst und mit anderen umgehen können. Egal, ob wir in der Rolle als Führungskraft, als Privatperson oder irgendwo im weiten (Spannungs-)Feld dazwischen agieren.

Nicola Rohner leitet die Seminarteilnehmer bei einer kleinen Achhtsamkeitsübung an © Year Of The X

Auch Nicola Rohner kennt diese Überlegung. Die studierte Innenarchitektin arbeitete jahrelang als Marketing-, Medien- und Salesspezialist, bis ein Burnout ihr Leben in neue Bahnen lenkte. Mittlerweile bietet die Münchnerin ein ganzheitliches Training und Coaching an, das Themengebiete wie Selbstorganisation und Zeitmanagement, positive Kommunikation sowie Mindfulness, Emotionale Intelligenz und Life Balance beinhaltet. In ihrem Vortrag ging Rohner der menschlichen Angst nach, etwas zu verpassen: Fear of Missing Out, kurz „FOMO“. Das Syndrom ist so weit verbreitet, dass es der Begriff 2013 ins Oxford Dictionary geschafft hat. Experten sprechen bei FOMO sogar von der ersten „Social-Media-Krankheit“, von einer Form der Fremdsteuerung, die uns im Griff und gefangen hält.

Mittendrin statt nur dabei
Verschiedene Motive befeuern FOMO, etwa der Wunsch, zur Herde gehören zu wollen und die (vermeintliche) Sicherheit, möglichst viele Eisen im Feuer zu haben – menschliche Grundbedürfnisse, die nach ständiger Befriedigung verlangen. Evolutionsbiologisch betrachtet eigentlich nichts Neues. Verhältnismäßig neu ist jedoch die Tatsache, dass wir dank Smartphones und Co (ausreichender Akku plus Internetzugang vorausgesetzt) fortwährend an einer zweiten, an einer digitalen Welt partizipieren können. Denn das Netz schläft nie. Jede Minute werden im Internet 16 Millionen Textnachrichten verschickt, über 450.000 Tweets abgesetzt und mehr als 46.000 Posts bei Instagram hochgeladen. Redaktionsschluss und Testbild als externe Grenzen existieren nicht. Eine News jagt die andere, ein Selfie das nächste, eine Option löst eine Vielzahl anderer Möglichkeiten ab. Und leitet neue ein.

Quelle: https://www.allaccess.com/merge/archive/26034/what-your-audience-is-doing-when-they-re-not

Jede Entscheidung für etwas ist heute folglich nicht eine Entscheidung gegen Etwas, sondern gegen mehrere Etwas. Vergleichbar mit dem Versuch, im Supermarkt auf die Schnelle den einen, den richtigen Joghurt unter vielen zu finden. Wir leben in einer Endlos-Schankstunde, an der wir uns unermüdlich berauschen können oder an der wir zugrunde gehen. Das digitale Geschnatter versetzt uns in eine gefährliche Dauerpräsenz: Wie der Pawlowsche Hund lassen wir uns auf permanente Interaktion konditionieren und fürchten, kein Teil der schönen neuen Welt zu sein,  nicht adäquat dazuzugehören.

Vom FOMO zum JOMO
Im Zen-Kloster Buchenberg haben wir den Hund an die Leine genommen. Ein Instagram-Bild von der Umgebung, eine Aufnahme von Zero-Waste-Expertin Milena Glimbovski. Danach war Schluss. Kein Gezwitscher, kein Geposte, kein Geblogge. Letzteres bis heute. Ist mir das schwer gefallen? Ja und nein. Der fehlende digitale Einsatz hat (analoge) Energie in mir freigesetzt, zum Beispiel für erneutes Ausmisten. Mit unvernebelten und unvermüllten Gedanken habe ich kritische Runden gedreht, an deren Ende ich mich mit freiem Geist der Herausforderung Loslassen stellen konnte. Denn für mich bedeutet Reduzieren alias Entrümpeln immer auch eine mentale Challenge. „Does it spark joy“ nach Marie Kondo? Würde ich den Gegenstand kaufen, wenn ich ihn am Flohmarkt gebraucht für einen Euro bekäme? Hat das Objekt oder die Beziehung noch einen würdevollen Platz in meinem Leben? Was ist mir wirklich wichtig?
Um diesen und ähnlichen Fragen nachzuspüren, braucht es mentalen Raum und eine gewisse Form der Selbstbestimmung. Dafür müssen wir uns im positiven Sinne wieder erlauben, etwas zu verpassen, sozusagen JOMO: The Joy of Missing Out. Für Nicola Rohner eine persönliche Hängematte. Ihr Plädoyer: Installiert „Ruhematten für den Geist“, damit sich neue Gewohnheiten herausbilden und frische Muster etablieren können.

In der Ruhe des Allgäus und mit eingeschränktem WLAN waren wir am Ende so nah an uns selbst wie schon lange nicht mehr. Und ebenso nah an fremden Menschen, die wir dort kennengelernt haben. Flüchtige, wahrhaftige Begegnungen in viel zu kurzer Zeit, aber mit intensiven Gesprächen und einem ehrlichen Interesse am Gegenüber. Mindful Leadership in the Digital Age, das ist mir bewusst geworden, muss zunächst als Achtsamkeit gegenüber uns selbst beginnen, quasi #MoreMoments und #MoreMindfulness. Ich freue mich schon darauf, in Zukunft mehr zu „verpassen“, um Platz für anderes zu gewinnen.