Minimalismus hat viele Gesichter. Rund 30 von ihnen porträtiert Lina Jachmann in ihrem Guide für einen minimalistischen Lebensstil, der im März 2017 im Knesebeck Verlag erschienen ist und sich in vier große Kapitel gliedert: Minimalismus & Wohnen, Minimalismus & Mode, Minimalismus & Körper sowie Minimalismus & Lifestyle.
Schon das Vorwort beginnt mit einer heiklen und mutigen Frage: „Was ist Minimalismus genau?“ Heikel, weil es wohl – wie für so viele Bereiche im Leben – auch zu diesem Thema keine allgemeingültige Antwort gibt, mit der sich jedermann zufriedengeben wird bzw. zufriedenstellen lässt. Mutig, weil allein der Glaube, die ultimative und allgemeingültige Formel, Wahrheit, Weisheit, Definition etc. für das einfache Leben gefunden zu haben, schlichtweg vermessen ist. Und wiederholt zu mehr oder weniger erbitterten Grabenkämpfen unter Minimalistinnen und Minimalisten geführt hat und führt.
Genau an dieser Stelle hebt sich Jachmanns Lektüre bereits in einem ersten Schritt positiv ab. Die Autorin wird nicht müde zu betonen, dass es sich bei ihrem Buch eben nicht um eine dogmatische Schritt-für-Schritt-Anleitung handelt, sondern um den Versuch, inspirierende Frauen und Männer mit ihren individuellen Geschichten vorzustellen. Sozusagen eine Reise, bei der man unverhohlen durch die unterschiedlichsten Schlüssellöcher spitzen und sich jede Menge Anregungen holen kann; auch für geistiges Entrümpeln. Ein kluger Ansatz, der den Blick weg von der eigenen Person lenkt und Raum für menschliche Vielfalt, Inspiration, neue Denkansätze und Austausch eröffnet. Im besten Fall sogar für ein voneinander Lernen und gemeinsames Pläneschmieden. Sofern man diesem Blickwinkel eine Chance gibt.
Klug ist in meinen Augen überdies die ansprechende Aufmachung von Homestorys und Interviews. Warum? Nun, weil die visuelle Gestaltung bei Marketing und Absatz eben eine existentielle Rolle spielt. Für die erfahrene Kreativdirektorin und Autorin täglich Brot und beruflicher Alltag, was Kritiker innerhalb der „Minimalismus-Szene“ allerdings schnell auf den Plan ruft.
Wer Resonanz und Reaktionen in den letzten Wochen aufmerksam verfolgt hat, dem wird die aufgeklappte Schere nicht entgangen sein. Entzückte Jubelrufe und begeisterte Instagramposts haben genauso ihren Weg in die Öffentlichkeit gefunden wie die „Schon-wieder-so-ein-Buch-Diskussion“ oder die Frage, ob man ausgerechnet mit dem Thema „Minimalismus“ Geld verdienen darf. Von entrüsteten Krempelliebhabern ganz zu schweigen. Sogar zahlreiche Publikumsmedien, aber auch die sogenannte „Lifestyle-“ und „Wirtschaftspresse“ haben Jachmanns Tipps für weniger Ballast (im Kleiderschrank) klickträchtig zwischen Affiliatelinks und den neuesten Fashiontrends platziert. Und manch einer unter ihnen nimmt das Thema sogar zum Anlass, um bereits die Endlichkeit des einfacheren Lebens heraufzubeschwören, wie Soziologie-Professor Kai-Uwe Hellmann in einem Interview mit der Berliner Boulevardzeitung B.Z.: „Minimalismus ist im Moment eine Trenderscheinung. Allerdings sind die meisten Leute in der Umsetzung inkonsequent. Häufig wollen sie sich einfach nur von der Mehrheit absetzen.“
Jede Menge Sprengstoff für unendliche Balgereien um das richtige Maß an Weniger, Grüner, Nachhaltiger, Reduzierter. Dass wir die Freiheit haben, diese Diskussionen zu führen, ist unterschätztes Gut und Dynamit in Personalunion.
Denn ab einer bestimmten Stufe stellt sich ohnehin die zündende Frage: Ist die Menschheit qua ihrer biologischen Beschaffenheit als ausscheidendes und zwangsweise konsumierendes Organ von sogenannten „Needs“ in Summe nicht längst untragbar bzw. obsolet geworden?
Einfach leben. Und leben lassen
Wo „darf“ und will sich vor diesem Hintergrund also die Bloggerin in mir einordnen, die – Achtung, Transparenz – kein Geld für ihre wie auch immer geartete Meinung, wohl aber ein kostenloses Rezensionsexemplar vom Verlag bekommen hat. Nun, in erster Linie hat es Lina Jachmann in meinen Augen geschafft, das „Einfache Leben“ in vielen Punkten positiv(er) zu besetzen. Optisch und inhaltlich. Wer sich noch nie mit Minimalismus auseinandergesetzt hat, lernt viele – natürlich überwiegend reichweitenstarke – Influencer kennen, deren Lebensalltag sich nicht wie ein unbequemer Verzicht oder schwer zu ertragender Mangel anfühlt. Im Gegenteil.
Mit Weniger zum Mehr meint hier, bewusstere Entscheidungen gegen etwas zu treffen, um anderes zu gewinnen. Zum Beispiel weniger Geld für Billigprodukte = mehr Langlebigkeit und weniger Müll. Weniger Besitz = mehr äußere und innere Ordnung. Weniger Fast Food = mehr Slow Food. Weniger Sachgeschenke = #MoreMoments und wirklich Wertvolles.
Wie und warum sich Menschen dem Minimalismus zuwenden, hat folglich ganz unterschiedliche Gründe. Nicht jeder von ihnen kommt per se aus einem Leben im Überfluss und Konsumrausch, war früher automatisch Modeblogger, Shoppingjunkie und Workaholic. Auch wirtschaftliche Gründe wie Schulden, Jobverlust, eine kleine Rente o.ä. können ein – wenngleich in diesen Fällen eher nachrangiger – Motor sein. Wie Zwang und Not zu Lifestyle und Tugend werden können, ist damit freilich noch nicht beantwortet.
Die verschiedenen Vertreter und ihre Geschichten sind in ihren Gemeinsamkeiten und in ihrer Gegensätzlichkeit ein Abbild der Strömungen, die sich sukzessive im Minimalismus herausgebildet haben. Sogar von „Neo-Minimalismus“ ist schon die Rede. Nicht jeder, der ausmistet und reduziert, beansprucht automatisch einen – man möge mir den überstrapazierten Begriff verzeihen – „nachhaltigen“ Lebensstil. Nicht jeder, der vegan isst, pflegt eine Capsule Wardrobe, kauft unverpackt ein, lebt im Tiny House, besitzt nur 100 Dinge und arbeitet Teilzeit.
Manch einer hat aus dem steigenden Bedürfnis nach Weniger sogar ein Geschäft gemacht wie Milena Glimbovski, die 2014 eine Crowdfunding-Kampage für Original unverpackt startete. Der Berliner Supermarkt ohne Umverpackungen ist ein schönes Beispiel dafür, warum die Diskussion und Aufklärung über Konsum wichtig ist und warum es sehr wohl einen, nein, mehrere Unterschiede macht, was wir uns in den Einkaufskorb packen. Oder eben nicht packen.
Zero Waste, Fair Fashion und die Sharing Economy geben sich bei Lina Jachmann bzw. bei ihren Gesprächspartnern die Klinke in die Hand. Ob sie und ihr Lebensstil die „Welt retten“, ist am Ende nicht die Frage. Das kann man kritisieren. Oder akzeptieren. Denn unterschiedliche Zielgruppen wollen unterschiedlich angesprochen werden.
Wer nur den Zeigefinger erhebt und Verbote ausspricht, läuft Gefahr, gute Ansätze und den ehrlichen Goodwill zur Veränderung mit Füßen zu treten.
Oder um es mit Interviewpartner Joachim Klöckner zu sagen: „Aber wenn der Zeigefinger kommt, dann kommt irgendwann als Echo der Mittelfinger.“ Eine gesunde Haltung von einem maximalen Minimalisten, der nur mehr 50 Teile sein Eigen nennt. Socken einzeln mitgezählt.
Einfach leben bewegt sich für meinen Geschmack elegant zwischen lesenswerter Akkumulation zum Thema und einer Startlektüre für Newbies und Einsteiger, die den Minimalismus im Internet dezidiert im Medium Print versammelt hat. Der bunten Mischung aus Homestories, Interviews, Tipps und DIYs gelingt das auf eine unaufgeregte und ansprechende Weise. Wem das nicht reicht oder wer kein Geld dafür ausgeben möchte: Im Anhang finden sich weiterführende Adressen sowie der eine oder andere Blogger, der Euch bereits bekannt sein dürfte.
Alle Zitate nach Lina Jachmann: Einfach leben. Der Guide für einen minimalistischen Lebensstil. Knesebeck Verlag, München 2017 (24,95 Euro)
Alle Abbildungen – soweit nicht anders angegeben – mit freundlicher Genehmigung des Knesebeck Verlages: © Marlen Mueller/ Knesebeck Verlag.
TV-Tipp zum Thema:
Joachim Klöckner: Minimalismus gegen Altersarmut.