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Mäßigung. Lernen von einer alten Tugend

Wenn Thomas Vogel nicht im Hörsaal liest, findet man ihn vielleicht bei seiner Schafherde. Oder im Garten, wo er als Selbstversorger Obst und Gemüse anbaut. Der Kontakt zur Natur fördere die persönliche Entschleunigung, sagt der Bildungspraktiker, der als Professor für Erziehungswissenschaften an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg lehrt:

Die Haltung von Haustieren oder die Erzeugung von eigenen Lebensmitteln ist eine sehr gute Möglichkeit, ein rechtes Maß im Lebensalltag zu finden. Die direkte Auseinandersetzung mit der Natur zeigt einem Grenzen auf und ordnet Zeitabläufe.

Doch von Entschleunigung kann in einer wachstumsgetriebenen Kultur nur schwer die Rede sein. Allein im Internet wurden im vergangenen Jahr 187 Millionen E-Mails und 38 Millionen WhatsApp-Nachrichten pro Minute verschickt. Die menschliche Angst, etwas zu verpassen, ist groß – so groß, dass es mittlerweile sogar einen Begriff dafür gibt: FOMO, Fear of Missing Out.

Prof. Dr. Thomas Vogel © privat

Leere Zeiten aus- bzw. maßzuhalten, Körper und Geist durch Fasten zu reinigen sowie die Fähigkeit zur Selbstbeschränkung scheinen unter dem gesellschaftlichen „Diktat der Effizienzsteigerung“ mehr und mehr verloren zu gehen. Nur so lässt es sich bspw. erklären, warum jährlich allein 18 Millionen Tonnen genießbare Lebensmittel im Müll landen, warum Klimawandel und Artensterben ungehindert ihren Lauf nehmen. Doch dieses Verhalten gefährdet unsere natürlichen Lebensgrundlagen, warnt Vogel, der seinen Heidelberger Campus Anfang Februar gegen den Münchner Zukunftssalon getauscht hat.

Unter dem Titel seines Buches Mäßigung. Was wir von einer alten Tugend lernen können versucht(e) der habilitierte Bildungsexperte der Übernutzung der Erde eine Philosophie der Mäßigung entgegenzusetzen. Diese Philosophie sei nach eigenen Angaben umfassender und besitze mehr Tiefe als die modernen Konzepte der Suffizienz oder die vielfältige Ratgeberliteratur zum Minimalismus, zum Aufräumen im Leben oder zur Entschleunigung. Diese philosophischen Überlegungen können uns ein alternatives Fortschrittsmodell für die Bewältigung der Krise unserer Zeit liefern.

 

Um das Modell zu erläutern, führte der Autor das Publikum anhand von fünf Leitfragen durch den Abend:

  1. Maßlosigkeit – eine Welt am Limit?
  2. Kann der Mensch sich mäßigen?
  3. Mäßigung – ein Weg zur Befreiung?
  4. Warum fällt uns Mäßigung so schwer?
  5. Wie gelingt Mäßigung in einer immer maßloseren Zeit?

Die Antworten und Thesen sind ernüchternd und paradox zugleich, wofür einige Beispiele aus dem Vortrag und damit aus Geschichte, Philosophie sowie der Soziologie stellvertretend stehen:

  1. Mit dem Aufkommen der Aufklärung gewann der Mensch zunehmend Macht über die Naturzusammenhänge, verlor jedoch gleichzeitig die Kontrolle über die eigenen existentiellen Lebensgrundlagen.
  2. Mit Beginn der Neuzeit begann die Absolutsetzung des menschlichen Selbst als Gott und Herrscher über die Welt.
  3. Maßlosigkeit ist kein individuelles Problem, sondern Kennzeichen unserer gesamten (Wirtschafts-)Kultur, in welcher immer mehr (Wachstum) immer positiv besetzt ist.
  4. Lange Zeit galt die These, wonach Glück und Freiheit mit dem Angebot an Optionen wachsen. In Überflussgesellschaften verkehrt sich das jedoch ins Gegenteil.
  5. Die Zunahme an Wahlmöglichkeiten hinterlässt verunsicherte und unzufriedene Menschen, weil sie bei jeder Entscheidung für eine Sache andere (zahlreiche) Optionen abgewählt haben.
  6. Der Überfluss an Dingen nagt nicht nur an den begrenzten Rohstoffressourcen, sondern auch an der begrenzten Ressource „Zeit“.
  7. Die meisten Menschen arbeiten in entfremdeten Verhältnissen und benötigen Shopping, Reisen u.a. als Ausgleich.
  8. Sigmund Freud benannte drei Gruppen von „Linderungsmitteln“, um in einem Leben mit zu viel Leid und unlösbaren Aufgaben bestehen zu können: Aktivitäten (z.B. Weihnachtsmärkte), Ersatzgüter (z.B. Konsumgüter) sowie Rauschstoffe (z.B. Alkohol), die uns für das erfahrene Leid unempfänglich machen.
  9. Güter und Bedürfnisse werden Hand in Hand produziert, denn der Kapitalismus braucht entwurzelte, unglückliche und unbefriedigte Menschen, die konsumieren. Der Sinn für ein zufriedenes und glückliches Leben geht verloren.
  10. Die acht reichsten Menschen der Welt besitzen so viel wie die ärmere Hälfte der kompletten Erdbevölkerung.

Alternativen gegen trügerische Glücksversprechen der modernen Zivilisation
Thomas Vogel empfiehlt, Mäßigung als Lebenskunst zu verstehen, um die Herrschaft über sich und sein Leben zurückzugewinnen. Mäßigung sei ein „Denkangebot für innere Freiheit“, kein moralischer Zeigefinger, bilanziert der Referent. Frei nach dem Motto: „Darf’s ein bisschen weniger sein?“ Denn wenn man das richtige Maß überschreite, werde das Angenehme schnell zum Unangenehmen.

oekom Verlag, München 2018

Kein Wunder also, dass Mäßigung in allen fünf Weltreligionen sowie in der Philosophie eine wichtige Rolle spielt. Oder um es mit Epikur zu sagen: „Wenn du einen Menschen glücklich machen willst, dann füge nichts seinen Reichtümern hinzu, sondern nimm ihm einige von seinen Wünschen.“

Für die Möglichkeit, die Publikation von Thomas Vogel als Vorbereitung auf den Vortrag zu lesen, bedanken wir uns beim oekom Verlag. Alle Zitate stammen – soweit nicht anders angegeben – aus Vogels Buch.

Ob Minimalismus, Mäßigung oder Beschränkung: Welcher Begriff beschreibt Euer Lebensgefühl bzw. Euer Lebensmodell denn am besten?

Kinostart: Raus. Walden für die Generation Z

Glocke (Matti Schmidt-Schaller) gehört zur „Generation Z“. Zu einer Generation, die nach 1995 geboren worden ist und die es als normal empfindet, „Serien bei Netflix zu gucken, Musik zu streamen, sich die Weltlage von YouTubern und alle anderen Probleme von Google erklären zu lassen.“ Und Glocke ist dagegen. Gegen Kapitalismus, gegen globale Ungerechtigkeit, gegen Umweltverschmutzung und gegen Tierversuche. Ein wirklicher Weltverbesser oder Aktivist ist er allerdings nicht. Aber einer, der irgendwie dagegen drücken möchte in einem System, in dem die falschen Menschen am Drücker sind. Spontan schließt er sich deshalb einer Gruppe Fremder an: fünf Jungen und Mädchen, die sich im Internet verabredet haben, darunter Judith (Milena Tscharntke) alias Pornoqueen. Motto der „grünen“ Influencerin: Kickstarte uns, wir ficken dagegen an.

Die jungen Rebellen Glocke, Judith, Steffi (Matilda Merkel), Elias (Tom Gronau) und Paule (Enno Trebs)

Gemeinsam folgen sie dem Ruf eines Unbekannten namens „Friedrich“, der in den Bergen lebt und in der Rückbesinnung zur Natur den Weg in die Zukunft sieht. Ein moderner Henry David Thoreau, welcher den Jugendlichen im Internet ein analoges Walden im digitalen Zeitalter verspricht, einen Sehnsuchtsort und Gegenpool zur alltäglichen Wüste aus Langeweile und unsinnigem Zeitvertreib. Jeder einzelne von ihnen möchte seine Vergangenheit hinter sich lassen und aus dem System ausbrechen, das ihn geformt hat.


Im Film wird jedoch größtenteils über diese individuellen Geschichten und Treiber geschwiegen. Nur ansatzweise treten die Charaktere mit ihrer persönlichen Biographie hervor und machen sich sichtbar: Einfach hier raus, neu geboren werden, einen Neustart wagen wie bei einem Computer – nur das treibt sie an. Für mehr Tiefe ist in diesem – durchaus – als Coming-of-Age-Story angelegten Plot leider kein Platz. Denn das bisherige PC-Spiel der Protagonisten heißt ab sofort „Leben“, ein Leben, das sie bis dato so nicht erfahren konnten. Ein unmittelbares, echtes Dasein mitten in der Natur, auf der Suche nach Einfachheit und in der Hoffnung auf Erlösung durch einen heilsversprechenden Messias.

Raus aus der Zivilisation, zurück in die Natur

Das Aufschreien gegen die Welt macht den überwiegend stillen Film mit seinen beeindruckenden Naturaufnahmen, die sich zwischen den Einstellungsgrößen (Größenverhältnis der abgebildeten Objekte bzw. Subjekte durch die Kamera) Welt und Detail bewegen, stellenweise sehr laut. Raus lässt – dank talentierter Nachwuchsschauspieler – zudem im weitesten Sinne Reminiszenzen an den Abenteuerfilm Stand by Me – Das Geheimnis eines Sommers sowie an die Kinoadaption von Wolfgang Herrndorfs Tschick aufkommen. Auch wenn der Mix der Darstellungsformen zwischen Spielfilm, Dokumentation und metaphorischen Kunstformen oft genauso orientierungslos und unentschlossen wie das Zweifeln und Suchen der jungen Frauen und Männer selbst wirkt; die überdies viel zu spät erkennen, dass ihre Idee des (gesellschaftlichen) Neuanfangs auf einer Lüge aufbaut.

Fernab der Gesellschaft treten archaische Verhaltensweisen zu Tage

Raus versucht als Film ein Gedankenspiel: Jugendliche wagen unter guten Vorsätzen einen riskanten Schritt. Sinn, Nachhaltigkeit und Ausgang ihrer Suche sind ungewiss“, bilanziert Regisseur Philipp Hirsch.

Minimalismus21 sagt: Für Fans von wildromantischem Minimalismus à la Wir hier draußen (Andrea Hejlskov) und/ oder Liebhabern von Goldings Herr der Fliegen empfehlenswert.

Alle Zitate stammen – soweit nicht anders angegeben – aus dem Kinofilm Raus.
Alle Abbildungen mit freundlicher Genehmigung von farbfilm verleih.

Raus
Regie: Philipp Hirsch
Kamera: Ralf Noack
Musik: Johannes Lehniger, ComixXx
Verleih: farbfilm verleih
Länge: 101 Minuten

Weitere Infos findet Ihr unter raus-film.de sowie auf den entsprechenden Social-Media-Kanälen.

Das Kinodebüt von Hirsch startet am 17. Januar 2019 deutschlandweit im Vertrieb von farbfilm verleih, die uns eine kostenlose Preview ermöglicht haben sowie ein kleines Gewinnspiel.

Wer sich selbst ein Bild von dieser Produktion machen möchte, verrät uns bis zum 12. Januar 2019 im Kommentarfeld oder bei Facebook, wo bzw. aus welchem Bereich des Lebens sie bzw. er dieses Jahr „raus möchte“.

Bitte denkt daran, Eure E-Mail-Adresse (nicht öffentlich sichtbar auf dem Blog!) anzugeben. Wir verlosen 3 x 2 Kinokarten. Unter allen Antworten zieht die Glücksfee am Ende die GewinnerInnen.

Der Rechtsweg ist ausgeschlossen. Umtausch oder Barauszahlung des Gewinns sind nicht möglich. Teilnahme ab 18 Jahren.

Fast Fashion. Mode am Scheideweg

Immer schneller, immer billiger. Die internationale Textilindustrie ist alles andere als minimalistisch. 2018 wurden 62 Millionen Tonnen an Kleidung hergestellt. Für 2030 soll sich deren Anzahl bereits auf 102 Millionen belaufen. Das entspricht 500 Milliarden T-Shirts. Kann eine solche Menge überhaupt fair produziert werden? Definitiv nicht, sagt Kirsten Brodde, Detox-Campaignerin bei Greenpeace Deutschland. Als Konsumenten müssen wir einerseits „runter vom Tempo“ und andererseits ein neues Verhältnis zu unserer „zweiten Haut“ entwickeln. Und das ist nicht gleichzusetzen mit „nackt und barfuß laufen“, beruhigt Brodde.

Modefahrplan gegen Wegwerfmode
Zusammen mit dem Blogger Alf-Tobias Zahn (Großartig) hat die promovierte Mittfünfzigerin einen Guide für all diejenigen geschrieben, die Wegwerfmode satthaben. Einfach anziehend (oekom Verlag) möchte in 10 Schritten zum öko-fairen Kleiderschrank führen und gleichzeitig Awareness für die Missstände innerhalb der Textilindustrie schaffen. Einen ersten Einblick ins Thema gab die Autorin bei der Nacht der Umwelt im Münchner Klimaherbst 2018 – und fesselte das Publikum von Beginn an mit schockierenden Zahlen. So habe sich etwa von der Jahrtausendwende bis 2016 der Konsum von Kleidung verdoppelt, jedoch die Tragezeit halbiert.

Kirsten Brodde & Alf-Tobias Zahn engagieren sich für Fair Fashion. Foto © René Zieger. Montage Beitragsbild: Minimalismus21

Heute Trend, morgen Müll titelte dementsprechend das Nachrichtenmagazin Der Spiegel wiederholt in den vergangenen beiden Jahren, in denen Unternehmen wie H&M zeitgleich durch die gezielte Vernichtung textiler „Ladenhüter“ von sich reden machten. Ein ökologischer und ethischer Irrsinn, zumal dem Energiebedarf bei der Produktion von Kleidungsstücken ein äußerst klimarelevanter Impact zukommt, etwa durch Nassprozesse wie Färben; faire soziale Bedingungen für die NäherInnen vor Ort bzw. in Billiglohnländern noch überhaupt nicht mitgedacht.

Doch die dunklen Seiten dieses Industriezweiges finden auch direkt vor unserer Haustür statt, sagt Brodde. Bis zu 3.000 Chemikalien würden beim Waschen aus Hosen, Pullovern und Co. gespült, erst 15 Prozent der globalen Textilindustrie haben sich dem Thema „Entgiften und Chemie“ angenommen. Ein weltweiter Irrsinn, vor allem weil wir bis zu 40 Prozent unserer Kleidung ohnehin nie oder selten tragen. Warum also nicht einmal eine Kleidertauschparty besuchen, Dinge reparieren, verleihen, Secondhand und Vintage kaufen oder einfach auf Schatzsuche im eigenen Schrank gehen? Den „Kulturwandel in unseren Köpfen anstoßen“ nennt Brodde das und verweist dabei auf eine wichtige Komponente: „Shoppen macht nicht glücklich!“ Jedenfalls nur bedingt und niemals auf Dauer.

Out-Fit für die Zukunft? Dr. Kirsten Brodde gilt als eine der profiliertesten Kritikerinnen der Textilindustrie

Wer das nicht glaubt, googelt vielleicht einmal die Frage „How long the shopping buzz lasts“. Folgerichtig versteht sich der Ratgeber von Brodde und Zahn nicht als Plädoyer, viel neu zu kaufen, selbst, wenn die Dinge öko und fair sowie mit einem entsprechenden Textilsiegel versehen sind, dessen Übersicht der Guide samt Händleradressen gleich mitliefert. In einem weiteren Serviceteil werden interessante Expertinnen und Experten sowie Vereine und Organisationen für „bessere Konsumentscheidungen“, darüber hinaus spannende Dokumentationen rund ums Thema wie The True Cost – Der Preis der Mode vorgestellt.

Kleiderschrank und Gedanken bezwingen
Kirsten Brodde appelliert an Kopf und Gefühl, um einen Wandel in Industrie und Kleiderschrank herbeizuführen. Die Expertin weiß, dass Menschen emotional überzeugt werden müssen, weil mit dem Kauf von Mode in vielen Fällen eine Sehnsucht, sich individuell auszudrücken, befriedigt werden soll. Wer sich zum Beispiel entscheidet, gebraucht einzukaufen, möchte Trend und/ oder Lebensgefühl mitunter gleich mit konsumieren.

Auch eine „Lösung“: Einfach mal nichts kaufen und standhaft bleiben

Wo und wie bekommt man also die persönliche, eigene Stellschraube für Veränderung zu fassen? Die Lektüre kann erste Antworten darauf liefern. Denn ein Recht auf billige Kleidung gibt es für Brodde schon lange nicht mehr.

Für die Möglichkeit, das Druck-PDF zum Buch vor dem Erscheinungstermin am 1. Oktober 2018 sowie als Vorbereitung auf den Vortrag zu lesen, bedanken wir uns beim oekom Verlag.