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#MoreMoments 11: Handlettering. Kunstvolle Entschleunigung

Du hast aber eine schöne Schrift! Nein, habe ich nicht. Meine Handschrift ist zwar leserlich, zumindest wenn ich mir Mühe gebe, aber nicht sonderlich hübsch. Funktional, doch ohne große Schnörkel oder herzförmige i-Pünktchen. Beim Handlettering hingegen genieße ich es, ein abwechslungsreiches Buffet an Buchstaben aufzufahren.

Übung macht den Meister. Auch beim Handlettering!

Handlettering, das lässt sich am ehesten als Buchstabenmalerei beschreiben. Ende 2015 stieß ich auf dieses kreative Hobby und wurde schnell in den Bann der Buchstaben gezogen. Ich probierte etliche Papiersorten, Stifte und Techniken aus, feilte stetig an meinem Können und Stil. Durch das Handlettering entdeckte ich die unglaublich inspirierende Welt von Instagram, und welch wunderbarer Austausch dort unter den Lettering-Liebhabern herrscht. Es macht Spaß, sich mit Gleichgesinnten zu vernetzen, Feedback zu erhalten und zu geben, sich gegenseitig zu inspirieren und anzuspornen. Durch sogenannte monatliche Challenges bleibt man regelmäßig am Ball bzw. Stift und erfreut sich gemeinsam mit einer großen Community an der Buchstabenmalerei.

Seit Anfang 2016 lade ich unter meinem Pseudonym fraulyoner regelmäßig meine Letterings hoch. Doch wer nun glaubt, beim Handlettering stehe das Ergebnis im Vordergrund, irrt. Es geht nicht einfach nur darum, Worte zu Papier zu bringen. Während ich Stift oder Pinsel schwinge, konzentriere ich mich bewusst auf jeden einzelnen Buchstaben und vergesse dabei Zeit und Raum um mich herum. Es ist fast ein wenig meditativ. Wann sonst widmet man sich derart aufmerksam einzelnen Buchstaben? Mal abgesehen von der Zeit in der Grundschule, wenn man gerade das Schreiben erlernt. Trotz aller Konzentration geht es beim Handlettering nicht unbedingt um bestmögliche Leserlichkeit oder Gleichmäßigkeit. Vielmehr versucht man durch verschiedene Formen der Anordnung und Darstellung eine ästhetische Komposition zu erschaffen.

Auch für Ironie ist Platz beim Handlettering, quasi „Ironiclettering“

Und das macht echt Spaß, ja?
Aber hallo, und wie! Handlettering kann schnell süchtig machen. Doch abgesehen von der Freude an der Tätigkeit selbst hat dieses kreative Hobby auch praktische Vorteile zu bieten. Früher habe ich oft Postkarten mit lustigen oder nachdenklichen Sprüchen gekauft. Heute stelle ich solche Sprüche einfach selbst dar. Ganz auf die Art und Weise, wie es mir gefällt. Wie so vielen Menschen geht es auch mir so, dass ich mir selbst gegenüber unheimlich kritisch bin. Selten bin ich mit einem meiner Ergebnisse hundertprozentig zufrieden. Doch diejenigen, die mir gefallen, nutze ich gerne als individuelle Dekoelemente. So verfügen wir zuhause quasi über eine regelmäßig wechselnde Ausstellung. Wenn ich täglich etwas im Blick haben kann, das mir gefällt, mit dem Wissen, es selbst erschaffen zu haben, erfüllt mich das mit Stolz und gibt mir einen kleinen, aber feinen Schub für mein Selbstbewusstsein. Das ist ein gutes Gefühl für einen notorischen Selbstkritiker und Tiefstapler wie mich. Dadurch sind die selbstgemachten Stücke für mich sehr viel wertvoller als gekaufte Fließbandware. Auch Glückwunschkarten kaufe ich keine mehr, sondern mache sie einfach selbst. Die Beschenkten freuen sich immer sehr über die Geste einer ganz individuellen Karte.

Handlettering sorgt überall für die gewisse Prise Individualität. Sei es bei Geschenken, Dekoration, Notizen oder ganz woanders. Ganz schön praktisch, oder?

Das Thema Minimalismus begleitet mich nun schon mehrere Jahre. Da ich ein Liebhaber der deutschen Sprache bin und gerne mit Worten jongliere, kam mir irgendwann der Gedanke, mit dem Bloggen zu beginnen. Doch ich hatte sehr viele Zweifel. Schließlich gibt es da draußen bereits Unmengen an Blogs. Gefühlt wurde alles schon einmal gesagt. Der ausschlaggebende Punkt, dennoch einen eigenen Blog ins Leben zu rufen, war für mich das Handlettering. Seit Anfang des Jahres blogge ich auf meinimalismus.de über meinen persönlichen Weg zu einem minimalistischen Leben. Durch meine Letterings erhalten meine Beiträge eine einzigartige Note und unterscheiden sich dadurch ein klein bisschen von all den anderen Blogs, die es da draußen bereits gibt.

Das klingt ja alles toll, aber ich habe leider eine Sauklaue…
Ich bin der festen Überzeugung, dass jeder Mensch Handlettering erlernen kann. Es ist völlig irrelevant, wie grauenvoll deine alltägliche Handschrift vielleicht aussehen mag oder ob Du früher schlechte Schulnoten im Fach Kunst hattest. Du brauchst weder eine schöne Handschrift, noch ein ausgefeiltes künstlerisches Talent. Die Fähigkeit, lesen und schreiben zu können, ist natürlich von Vorteil. Ansonsten jedoch benötigst Du bloß Freude an der Sache und viel Zeit und Geduld. Gib nicht zu schnell auf, Übung macht den Meister! Deine Handmuskulatur gewöhnt sich erst nach und nach daran, auf diese Art und Weise Buchstaben zu produzieren. Einen Stift in der Hand zu halten, das ist in der heutigen digitalen Zeit für viele Menschen doch eher eine Seltenheit geworden.

Das Grundprinzip hinter dem klassischen Handlettering ist schnell erklärt. Abwärts gerichtete Linien werden stärker betont als aufwärts gerichtete Linien. Der Rest ist Übungssache, Ausprobieren und persönlicher Geschmack. Es ist erstaunlich, wie schnell Erfolge sichtbar werden, sobald man die dahinter liegende Technik verinnerlicht hat. Durch regelmäßige Übung erweitert man beständig sein Repertoire an Buchstabenchoreographien. Manche investieren täglich einige Minuten, ich setze mich lieber an ein oder zwei Abenden in der Woche hin, wenn unsere kleine Tochter im Bett ist, und widme mich manchmal gleich mehreren Stunden am Stück der Buchstabenmalerei.

Eine schnörkellose Einkaufsliste aus dem Alltag von Frau Lyoner

Für den Anfang empfiehlt es sich, verschiedene Quellen der Inspiration zu nutzen, wie zum Beispiel Instagram. Es ist keine Schande, anfangs Ergebnisse geübter Lettering-Künstler nachzuahmen, um ein Gefühl für die Buchstabenmalerei zu entwickeln. Der eigene Stil kommt mit der Zeit ganz von allein. Regelmäßige Übung lässt sich auch prima im Alltag integrieren. Wieso nicht auch Einkaufszettel, Todo-Listen oder andere Notizen ansprechender als üblich gestalten?

Ich brauche sicherlich allerhand teure Materialien, oder?
Definitiv nicht! Was ich am Handlettering so schätze, ist die Möglichkeit, mittels einfachster Werkzeuge tolle Ergebnisse zu vollbringen. Im Grunde genügen Papier und Stift, dann kannst Du loslegen. Natürlich gibt es eine immense Auswahl an speziellen Stiften für die Buchstabenmalerei. Allen voran sind da die Pinselstifte, sogenannte Brush Pens, zu nennen. Diese sorgen durch ihre pinselartige Form für den charakteristischen Unterschied zwischen aufwärts und abwärts gerichteten Linien. Doch gerade für den Anfang braucht es eigentlich keine besonderen Stifte. Zum ersten Üben genügen stinknormale Fineliner oder Filzstifte. Es gibt übrigens Lettering-Künstler, die fast ausschließlich mit Bleistift arbeiten und damit grandiose Ergebnisse erzielen. Minimalistischer geht es wohl kaum. Selbst wenn Du irgendwann auf einer einsamen Insel stranden solltest und keinerlei Zugang zu Stift und Papier hättest, könntest Du problemlos im Sand Buchstaben tanzen lassen.

Handlettering, Schreiben, Nachdenken, Ausprobieren. Die wunderbare Welt der Frau Lyoner

Gleichzeitig birgt das Handlettering ein enormes Spektrum an Vielseitigkeit. Schlicht und minimalistisch oder pompös verschnörkelt und bunt. Jeder einzelne Buchstabe kann einzigartig dargestellt werden. Richtig und falsch gibt es dabei nicht. Auch die Auswahl an Werkzeug und Techniken ist gigantisch. Leider birgt dies vor allem für Anfänger die Gefahr, sich schnell zu verzetteln und zu viel Materialien auf einmal zu besorgen. Ich rate lieber dazu, einzelne Stifte und Techniken auszuprobieren und sich nach und nach bewusst für das zu entscheiden, womit man sich selbst wohlfühlt. Manch ein Werkzeug mag für den einen sowas wie eine Wunderwaffe sein und zu jemand anderem überhaupt nicht passen. Besser nicht zu viel auf einmal kaufen, sondern sorgsam ausprobieren und sich bewusst für bestimmte Materialien entscheiden. Auch das teuerste Werkzeug macht aus einem Anfänger keinen Meister. Entscheidend ist regelmäßige Übung, dann ist das Werkzeug im Grunde zweitrangig.

Neben den bereits erwähnten Brush Pens können auch Pinsel und Aquarell- oder Wasserfarben benutzt werden. Das Lettern mit einem Pinsel wird oft als Brushlettering bezeichnet, ist aber irgendwie auch nichts anderes als Handlettering. Schließlich bewegt sich so ein Pinsel nicht von allein.

Handlettering hört nicht beim Papier auf!

Handlettering hört übrigens nicht beim Papier auf. Tafeln können mit Kreide belettert werden. Auch für Textilien und Keramik gibt es spezielle Stifte. Mit Tablets einer bestimmten Marke und dedizierter Software kann man sogar ganz digital und ohne Papierverbrauch lettern, aber das haptische Gefühl fehlt dann leider eben. Doch genau dieses macht (zumindest für mich) den eigentlichen Reiz am Handlettering aus – ganz oldschool einen Stift in der Hand halten und ihn über das Papier gleiten lassen. Analog statt digital, das ist für mich eine Art Entschleunigung und eben jener meditative Aspekt, den ich bereits erwähnte. Natürlich verfüge ich dadurch über Besitztümer, die sich durch digitales Lettering vermeiden ließen, aber ich halte es da ganz nach der KonMari-Methode: Es wird das behalten, was Freude in mir auslöst. Im Übrigen ist meine Stiftesammlung eigentlich recht überschaubar. Alle Stifte passen in ein kleines Schminkköfferchen. Die häufiger benutzten bewahre ich zur besseren Übersicht allerdings stehend in zwei Bechern auf.

Vielleicht sollte ich das auch mal ausprobieren…
Auf jeden Fall! Wenn Du nicht recht weißt, wie Du beginnen sollst, wirf doch einen Blick in meinen Blogartikel zum Thema Materialien für Handlettering Einsteiger oder schau‘ auf Instagram bei der Läddergäng vorbei, die monatlich wechselnde Challenges zu verschiedenen Themen an einem Ort kumuliert. Falls Du wie ich ein ewiger Selbstkritiker sein solltest und ein wenig Ermutigung brauchst, geh‘ auf mein Instagram-Profil und scrolle ganz nach unten. Dann siehst Du, wie stümperhaft ich begonnen habe. Ganz ehrlich, die Verbesserung, die ich erzielt habe, kannst auch Du erreichen!

Über die Autorin
Aljona Buchloh lebt mit Ehemann und Tochter in Karlsruhe und arbeitet als Software-Entwicklerin. Das Leben vereinfachen und nicht zu ernst nehmen – so lautet ihre Devise.

Ihr Blog gedankenshift.de (vormals meinimalismus.de) begann einst mit dem Schwerpunkt Minimalismus und ist mittlerweile zu einem Ort gewachsen, der ganz allgemein zum Nach-, Um- und Querdenken anregen soll.

Auf Instagram ist sie unter dem Pseudonym fraulyoner bekannt und veröffentlicht dort die Ergebnisse ihrer Buchstabenmalerei.

Alle Abbildungen © privat.

More Moments.
Du willst anderen Menschen zeigen, was Dein Leben erfüllt, was Dich wirklich glücklich macht und bereichert? Du „sammelst“ lieber schöne Momente als Dinge und verbringst Zeit mit etwas Wertvollerem als mit compulsory consumption? Dann melde Dich bei uns und erzähle Deine (Minimalismus-)Geschichte. Wir freuen uns auf Dich.

#MoreMoments. Was wirklich wertvoll ist im Leben. Die aktuelle Blogserie auf Minimalismus21. Alle (vorherigen) Teile der Serie findet ihr unter dem Suchbegriff #MoreMoments rechts oben (Lupe) und natürlich bei Twitter. Zu Teil 1 und Teil 2 sowie zu Teil 3, Teil 4, Teil 5 und Teil 6, Teil 7 sowie Teil 8, Teil 9 und Teil 10.

Out of Office. Ichzeit 2018

Meine letzten großen Sommerferien liegen weit zurück. Genauer gesagt im letzten Jahrhundert und im letzten Jahrtausend zugleich. Mitte der 1990er Jahre. Vor dem letzten Schuljahr, das mich nach 13 Jahren Klassenraum in die Welt von Studium und diversen Nebenjobs entlassen sollte. Sechs Wochen, die alles versprachen, aber nichts von mir verlangten. Sechs Wochen, in denen Zeit noch nicht zu einer Währung verkommen war, einer Währung, die man ausgeben und investieren musste – für Hausarbeiten und gute Noten, in Praktika und erste Schritte auf dem Arbeitsmarkt. 42 Tage, die mir wie ein kostbarer Schatz vorkamen und stets ein Gefühl von „Alles ist möglich“ im Gepäck hatten, von Unendlichkeit, Unbeschwertheit und tiefster „Seelenbaumelei“.

Weniger Zeug, mehr Zeit
Irgendwann sind mir diese Gefühle mehr und mehr verlorengegangen. Denn die Währung hatte sich ausgezahlt. Ein abgeschlossenes Studium, eine fertige Doktorarbeit, solide Festanstellungen. Dazwischen mühsam erwirtschaftete Auszeiten von zwei bis maximal drei Wochen am Stück, um Körper und Geist wieder zusammenzuführen und ein Gefühl für das Hier und Jetzt fernab von externen Ansprüchen an mich und meine Person zu bekommen.
Wenn mich heute also jemand fragt, was ich mir wünsche, dann gibt es darauf meist nur eine Antwort: Zeit. Zeit mit lieben Menschen, Zeit für schöne Unternehmungen und vor allem Zeit für mich. Die Wiesbadener Kreativagentur Scholz & Volkmer hat aus diesem Gedanken sogar ein Projekt gemacht. Über die Non-Profit-Geschenkeplattform Zeit statt Zeug können sich Menschen alternative, kostenfreie Momente zukommen lassen wie einen gemeinsamen Spaziergang im Grünen. „Waldluft statt Parfüm“ sozusagen.

Den Sommer unvergesslich machen. Ob auf Reisen oder vor der eigenen Haustür

Je mehr der Minimalismus in meinem bzw. unserem Leben Einzug gehalten hat, desto mehr Raum hat auch das Thema „Zeit“ bei uns eingenommen. Und damit die Erkenntnis: Ich möchte wieder investieren und ausgeben. Doch nicht in Dinge, sondern in Momente ohne Deadlines sowie in Wochen ohne Zählen bis zum Wochenende.

Genau so will ich meinen Sommer auskosten. Mir Zeit nehmen. So wie früher eben. Da waren die Monate von Juni bis August trotz Schule, Uni und Nebenjobs doch auch immer bis zum Bersten voller Abenteuer,

schreibt Christiane Stella Bongertz in ihrem Essay Ein unvergesslicher Sommer in der siebten Ausgabe des Hygge-Magazins mit dem passenden Titelthema So wird dieser Sommer unvergesslich. Mein Sommer 2018 soll ebenfalls ein bisschen nach unauslöschlich schmecken. Nachdem der Herr M21er seinen Beschluss für ein ganzjähriges Sabbatical gefasst hatte, entschied ich mich für vier Wochen Extra-Urlaub im August dieses Jahres; zwei Wochen regulären Jahresurlaub on top. Investiert habe ich dafür drei Monate Vollzeitarbeit bei jeweils einem Viertel weniger Gehalt. Die Differenz bekomme ich in der freien Zeit ausgezahlt, ohne einen Schritt ins Office zu machen.

Tausche 40-Stunden-Woche gegen Zeitwohlstand
Arbeitskostüm, Schreibtisch und PC tausche ich also demnächst gegen Rucksack, Schienen und Interrail-Ticket. Rund 3.000 Kilometer geht es mit dem Zug durch Nord- und Ost-Europa und zurück, teile ich doch mit Per J. Andersson (schwedischer Abenteurer und Autor) von jeher das Gefühl,

dass die Welt so viel mehr sein musste als das, was ich von daheim kannte.

(„Reisen macht uns freier – im Denken und im Handeln“. In: Hygge No. 7/ 2018)

Inspiration und Ideen für einen unvergesslichen Sommer verspricht die aktuelle hygge-Ausgabe

Druck oder falsche Erwartungen mache ich mir dabei nicht. Schlendern durch fremde Gassen mit leichtem Gepäck und ohne den Anspruch, jede Stadt und jeden Ort vollständig erschließen zu müssen. Sich treiben lassen von Land und Leuten, ganz ohne Zwang im Strom des Lebens schwimmen und in einem Meer aus Zeit baden, in das ich nicht erst in der Rente eintauchen möchte. Mein minimalistischer Konsum macht es möglich.

Und dafür musste nur ein neues Jahrtausend anbrechen.

Was soll Deinen Sommer 2018 unvergesslich machen? Verrate es uns und gewinne ein Jahresabonnement von hygge. Jeder Beitrag samt E-Mail-Adresse (nicht öffentlich sichtbar!) wandert in den Lostopf. Teilnahmeschluss ist der 22. Juli 2018. Der Rechtsweg ist ausgeschlossen. Umtausch oder Barauszahlung des Gewinns sind nicht möglich. Teilnahmeberechtigt sind Personen ab 18 Jahren. Viel Glück!

Für das Gewinnspiel (unbezahlte Kooperation) und das kostenlose hygge-Magazin (PR-Sample) – aus dem die Zitate stammen – bedanken wir uns bei Gruner + Jahr.

Zeit für Stille: Ein Film, der keine Ruhe gibt

Er wurde bereits von vielen Medien, Magazinen, Autoren oder Blogs wie Minimalismus21 bejubelt, hoch gelobt und empfohlen – der im November 2017  erstmals im Kino ausgestrahlte Dokumentarfilm Zeit für Stille von Patrick Shen. Was soll, kann, darf ich über ein halbes Jahr später noch sagen? Nichts und doch manches. Nichts, denn der Film verdient sein Lob, beeindruckt mich und gibt (heute und garantiert auch noch in den nächsten Jahren) zu denken. Aber doch manches, denn er lässt mich einerseits die Ohren spitzen und lässt mich andererseits in einem Punkt nicht in Ruhe.

Im regulären Alltag fällt es oftmals schwer, die Welt zum Schweigen zu bringen © kinofreund.com

Der Film trifft es auf den Punkt – und mich!
Muss erst ein solcher Film her, um der „Zeit für Stille“ Gehör zu verschaffen? (Leider) ja. Eigentlich bin ich ein Mensch, der sich viel Zeit für Stille nimmt und weiß, dass er sie braucht; dachte ich. Der Film belehrt mich eines Besseren und trifft mich wie ein lauter Donnerschlag: Nein, ich nehme mir kaum Zeit für Stille, ich habe sie meistens gar nicht, bin ebenfalls ein Opfer von Großraumbüro, Networking und ständig ausgelieferter Beschallung. Die – ich sage mal – Ohrfeige schüchtert mich aber keineswegs ein. Im Gegenteil! Sie spornt mich an, mir mehr Zeit für und vor allem mehr Recht auf Stille herauszunehmen. Mehr NEIN zu Lärm und Störungen zu sagen wie auch zu zeigen. Mir schlichtweg mehr Auszeit von Beschallungen zu nehmen und einzufordern.

Ständige Erreichbarkeit, mangelnde Rückzugsmöglichkeiten und Lärm machen auf Dauer krank

Was ich an dem Film zudem schätze: Neben Religion und Ritualen kommt auch die Wissenschaft zu Wort. Ich bin Wissenschaftlerin und denke bei Stille auch an ihre Messbarkeit in Dezibel. Wie vielen Dezibel wir tagtäglich – trotz der vielen Lärmschutzverordnungen und psychischen Gefährdungsbeurteilungen zum Thema Lärm – ausgeliefert sind, setzt Patrick Shen mit Getöse in Szene.

„Stille Gegenden ermöglichen es uns, zuzuhören“. Die Aussage von Kurt Fristrup, Bioakustik-Forscher (was es so alles gibt) vom National Park Service USA, ist für mich ebenfalls von großer Bedeutung und eine Zielvorgabe für mich. Wer sich die Zeit für Stille nimmt, ist erst wirklich im Stande, ein offenes Ohr für andere und anderes zu haben sowie deren Bedürfnis nach Stille zu verstehen.

Wo bleibt der Respekt für meine Zeit für Stille?
Wie verschaffe ich mir aber Respekt für meine Zeit für Stille, für mein Recht auf Ruhe? Mir geht es vor allem um den Respekt seitens der Familie, der Freunde, der Kollegen, der Nachbarn – also des direkten Umfelds. Die Antwort bleibt mir der Film schuldig.

Liegt die Stille nur in Religion und/ oder Meditation?

Ich will nicht stets in dem abgelegensten Wald Zuflucht suchen für mein Recht zu fliehen. Ich will nicht erst dem Buddhismus oder einer anderen Religion beitreten, um zu meinem Recht zu kommen. Ich will keine Dauerkarte im Schweigekloster bestellen, um mein Recht zu erkaufen. Ich will mich nicht dauernd erklären müssen, um mein Recht zu rechtfertigen. Ich will nicht wegen Respektlosigkeit als zickig, als sozial inkompetent oder als Kommunikationskrüppel abgestempelt werden.

Also, lieber Patrick Shen, was ist deine Lösung für mich? Eine Fortsetzung des Films?

Originaltitel: In Pursuit of Silence

Habt Ihr einen Lösungsvorschlag für unsere Gastautorin? Dann hinterlasst uns einen Kommentar. Und gewinnt mit etwas Glück eine von zwei DVDs des Dokumentarfilms Zeit für Stille.

Jeder Beitrag samt E-Mail-Adresse (nicht öffentlich sichtbar!) wandert in den Lostopf. Teilnahmeschluss ist der 13. Juli 2018. Der Rechtsweg ist ausgeschlossen. Umtausch oder Barauszahlung des Gewinns sind nicht möglich. Teilnahmeberechtigt sind Personen ab 18 Jahren. Viel Glück!

 

Für die beiden Exemplare bedanken wir uns bei mindjazz pictures.

Über die Autorin
Dr. Wiebke Hellmann ist ein Nordlicht, das es bereits vor vielen Jahren in den Süden verschlagen hat. Vor vielen, wenn auch nicht ganz so viele Jahren, hat sie zudem als promovierte Geologin der akademischen Laufbahn den Rücken gekehrt und sich auf den Weg des Technik-Journalismus begeben. Er ist mittlerweile in die strategische Ausrichtung von Videos mit redaktionellen Inhalten abgebogen.
Offen für vieles zu sein, ist Wiebke sehr wichtig. Doch sie gibt zu: Sich auf etwas Neues einzulassen, das vor allem das Leben umkrempelt, fällt ihr keineswegs leicht.

Aber irgendwann doch den Schritt zu wagen, ist ihr Ziel.

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